Politische Krisen, finanzielle Sorgen, gesellschaftliche Spannungen – die Liste der Herausforderungen scheint nicht zu enden. Und jetzt noch eine Regierungskrise in Frankreich. Wie stark trifft das Europa und damit uns alle?
Ob und inwiefern die innenpolitische Lage in Frankreich sich auch negativ auf die EU auswirkt, bleibt abzuwarten, wie etwa der Volkswirt und Direktor des Deutsch-Französischen Instituts (dfi), Marc Ringel, im Gespräch mit watson betont. Doch der Fokus Frankreichs liegt aktuell nicht auf der Europäischen Union.
Der geplante Sturz durch das Linksbündnis und den Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen im Parlament war erfolgreich: Der französische Premierminister Michel Barnier geht als der Premierminister mit der kürzesten Amtszeit in die jüngere Geschichte Frankreichs ein. Nach einem Misstrauensvotum gegen ihn und seine Regierung hat er am Donnerstag seinen Rücktritt eingereicht.
Präsident Emmanuel Macron bat ihn, vorübergehend geschäftsführend im Amt zu bleiben. Dabei gerät Macron selbst aktuell zunehmend unter Druck.
"Jetzt liegt der Ball bei Staatspräsident Macron", erklärt Ringel. Der muss nun die öffentliche Meinung und die Finanzmärkte beruhigen. Frankreich kämpft mit einem hohen Haushaltsdefizit von 6,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), und einer Staatsverschuldung von etwa 110 Prozent des BIP. Doppelt so viel, wie nach den Schuldenregeln der Europäischen Union zulässig ist.
Zudem fordern populistische Kräfte am linken und rechten Rand Macrons Rücktritt oder vorgezogene Präsidentschaftswahlen.
Er werde nun deshalb vermutlich relativ zügig einen neuen Premierminister benennen, der dann umgehend mit einem Notfallgesetz ein provisorisches Haushaltsgesetz "zumindest ansatzweise auf die Schiene bringen" soll. "Wenn das wirklich so gelingt, dürfte die Auswirkung auf Europa vergleichsweise gering sein", sagt Ringel.
Kurzfristig gesehen sei aktuell jedoch klar, dass die französische Politik insgesamt aktuell angeschlagen ist, vor allem Macron. "Diese Strategie, mit Neuwahlen eine Klärung herbei zu führen, kann man jetzt wirklich als gescheitert erklären", sagt der Volkswirt.
Der RN von Le Pen erzielte, anders als von Macron erhofft, bei den Wahlen einen historischen Erfolg und wurde stärkste Kraft im ersten Wahlgang. Macron hatte gehofft, mit seiner Partei Renaissance eine klare Mehrheit zu schaffen. Vergebens. "Damit sinkt jetzt auch tendenziell ein Stück weit das Gewicht Frankreichs in der EU", sagt der Experte.
Deutschland und Frankreich sind die zwei großen Volkswirtschaften der EU, beide haben aktuell den Blick vermehrt nach innen gerichtet. "Sie sind wegen nationaler Probleme intern gebunden und sind ein Stück weit geschwächt." Ein Nachteil für den Staatenverbund.
Stefan Seidendorf, ebenfalls Politologe beim dfi und stellvertretender Direktor des Instituts, betont auf Anfrage von watson: "Natürlich ist die Zeit vorbei, in der man mit Macron zusammen Europa hätte kraftvoll weiterentwickeln können." Ein Umstand, den Deutschland sich vor allem selbst zuzuschreiben habe.
Damit spielt er auf die mangelnde Unterstützung und Kooperation seitens anderer EU-Staaten, insbesondere Deutschlands, für Macrons ambitionierte europäische Reformpläne an.
Macron hatte sich klar proeuropäisch positioniert und eine stärkere Integration in der EU gefordert, insbesondere in der Wirtschafts-, Sozial- und Fiskalpolitik. Er setzte dabei auf eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit, um Blockaden in der EU zu überwinden und Reformen voranzutreiben.
Doch Macron stieß auf Zurückhaltung, vor allem von Deutschland, das in zentralen Fragen wie der Vergemeinschaftung von Risiken in der Eurozone zögerlich blieb. Das hat dazu geführt, dass Macrons Vision für ein stärker integriertes Europa nicht die notwendige Dynamik entfalten konnte. Eine möglicherweise verpasste Chance.
"Ohne Frankreich wird es in Europa aber auch nicht gehen. Dafür ist das Land einfach zu groß und zu wichtig, gerade auch als Gegenpol zu Deutschland, um in der EU Kompromisse zu finden, die letztendlich für alle Länder akzeptabel sind", sagt der Experte.
Die aktuelle Krise hat auch Einfluss auf die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland. "Die Zusammenarbeit zwischen den Regierungen leidet natürlich schon, wenn sich alle paar Monate neue Menschen, etwa die Minister:innen aneinander gewöhnen müssen", sagt Seidendorf.
Die Koordinations- und Abstimmungsarbeit in den Verwaltungen gehe weiter, aber das Vertrauen, um zusammen politische Impulse zu setzen, müsse sich immer wieder neu bilden.
Und Ringel erklärt: "Viele deutsch-französische Institutionen, zum Beispiel die deutsch-französische Parlamentarische Versammlung, hängen natürlich ein Stück weit davon ab, dass die Arbeit in der Regierung funktioniert." Dementsprechend seien klare Verhältnisse wichtig.
Doch laut den Experten bleibt das Fundament der Beziehungen bestehen und ist demnach auch nicht gefährdet. Trotz der Krisen sind die deutsch-französischen Beziehungen ihnen zufolge viel breiter und tiefer als die höchste politische Ebene allein.
Ringel nennt etwa die Tausenden Kommunal- und Städtepartnerschaften sowie kulturelle, wirtschaftliche Bande, die "extrem eng" seien. "Diese Gesamtstruktur ist das, was die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ausmachen und über diese Krisen hinweg trägt."
Mittel- und langfristig bleibe nun abzuwarten, wie es mit Macron politisch weitergehen wird – ob er etwa bis zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2027 durchhalten wird. Institutsdirektor Ringel sagt dazu: "Das ist das eigentlich große Spiel, das in Frankreich gespielt wird." Denn Macron kann nicht erneut antreten.
Die richtungsweisende Frage lautet dann: Folgt ein:e demokratische:r Kandidat:in? Oder wird es Le Pen mit ihrem rechtsnationalen Rassemblement National? "Das wird mittelfristig dafür entscheidend sein, wie stark die Europäische Union tatsächlich betroffen ist", sagt der Experte.