Unrasiert, in olivgrünem T-Shirt, übernächtigt: So erlebt die Welt gerade den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Er ist zum Gesicht des Widerstands gegen den russischen Angriff geworden, gegen Wladimir Putin.
Selenskyj will Entschlossenheit verkörpern, auch am Dienstagmittag, in seiner Rede vor dem Europaparlament. Er ist per Video zugeschaltet, aus der Ukraine. Er sagt: "Zurzeit weiß ich nicht, wie ich die Leute begrüßen soll, denn für manche ist es morgens, für manche abends und für manche ist heute der letzte Tag."
Selenskyj spricht über die zwei russischen Flugkörper, die kurz vor seiner Rede auf dem Freiheitsplatz in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, eingeschlagen sind und dutzende Zivilisten und Zivilistinnen getötet haben, darunter auch Kinder. Das sei der Preis, den die Ukrainerinnen und Ukrainer für ihre Freiheit zahlen müssten. Sie würden trotzdem weiter kämpfen.
"Ich lese hier übrigens nicht von meinem Blatt Papier ab", wirft der ukrainische Präsident dann ein, "denn wir sind hier mit der Realität konfrontiert, mit Menschen, die ihr Leben für die Freiheit lassen." Selenskyj fordert von den Mitgliedsstaaten der EU eine Aufnahme in das Bündnis. Nur so, sagt er am Schluss seiner Rede, könne "Licht über Dunkelheit siegen".
Kaum ist er fertig, stehen hunderte Abgeordnete von ihren Sitzen auf und klatschen. Selenskyj gilt in diesen Tagen vielen als Held, hier in Brüssel wie in großen Teilen der Welt. Doch das war nicht immer so.
Wie konnte Wolodymyr Selenskyj quasi über Nacht zu einer solchen politischen Ikone werden?
Noch vor wenigen Wochen wurde Wolodymyr Selenskyj belächelt. Nicht nur international, auch in der Ukraine schüttelten viele den Kopf über ihn. Zum Beispiel im Januar, als Selenskyj sich beim Skifahren in den Karpaten filmte und das Video auf Instagram hochlud. Zu diesem Zeitpunkt warnte der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA bereits vor einem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer warfen dem Präsidenten vor, er werde seiner Aufgabe nicht gerecht.
Das rührt auch daher, dass Selenskyj eine ungewöhnliche Vergangenheit vorweist. Ungewöhnlich für ein Staatsoberhaupt jedenfalls. Während die meisten seiner Amtskollegen in anderen Ländern früh eine politische Laufbahn eingeschlagen haben, war Selenskyj Komiker und Schauspieler. Seine Rolle als Wassyl Holoborodko in der beliebten Polit-Comedy-Serie "Diener des Volkes" legte den Grundstein für seine politische Karriere. Selenskyj spielte ab 2015 einen tollpatschigen, aber fleißigen Geschichtslehrer, der über Social Media Wahlkampf macht – und über Nacht zum Präsidenten wird.
2018 gab Selenskyj dann in der echten Welt seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine bekannt. Er wurde 2019 überraschend zum Präsidenten gewählt, mit einer Mehrheit von über 70 Prozent in der Stichwahl. Doch anschließend fiel der Zuspruch für ihn schnell. Die Menschen in der Ukraine hatten sich von ihm einen politischen Neuanfang erhofft, unter anderem im Konflikt mit Russland. 2014 hatte der Nachbarstaat die Krim besetzt und mithilfe prorussischer Separatisten einen Teil des Donbas im Osten des Landes unter seine Kontrolle gebracht.
Selenskyj hatte im Wahlkampf Frieden versprochen. Doch der kam nicht. Im Donbas wurde nach einer kurzen Waffenruhe wieder geschossen. Selenskyj wurde vorgeworfen, mächtige Oligarchen zu verschonen. Seine Verbindungen zum Milliardär Ihor Kolomojskyj blieben lange im Dunkeln.
Noch in den letzten Wochen vor der endgültigen Eskalation in der Ukraine wirkte Selenskyj oft hilflos, tat die US-Warnungen vor dem russischen Truppenaufmarsch als "Hype" ab. Er wollte keine Panik im Land schüren. Seit dem russischen Überfall aber erleben die Menschen in der Ukraine und im Rest der Welt einen völlig anderen Selenskyj. Einen Entschlossenen, einen starken Rhetoriker, aber auch einen Macher. Er bleibt in der Ukraine, will für sein Land kämpfen. Ein Angebot der USA, ihn auszufliegen und in Sicherheit zu bringen, soll er abgelehnt haben. Nur seine Frau und seine Kinder wurden außer Landes gebracht.
Selenskyj ist beliebt wie nie. Die ukrainische Übersetzerin Kateryna Rietz-Rakul, die Selenskyj und seine Reden seit seiner Wahl verfolgt, hat den Eindruck, einen anderen Menschen zu sehen als noch vor zwei Wochen. Im Gespräch mit watson sagt sie:
In der ukrainischen Bevölkerung habe Selenskyj bis vor Kurzem wenig Rückhalt gehabt, viele mochten ihn nicht. Mit der Münchner Sicherheitskonferenz vor gut zwei Wochen habe sich das Blatt gewendet.
Selenskyj forderte in seiner Rede Unterstützung von den Vereinten Nationen. Er verlangt eine ehrliche Antwort von der Nato: "Wenn Sie uns nicht dabei haben wollen, dann sagen Sie es uns ehrlich", sagte der ukrainische Präsident unter anderem.
Kateryna sagt im Scherz: "Vielleicht hat er Poroschenkos Redenschreiber abgeworben." Der ehemalige Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, gilt seit Jahren als starker Redner, sein Nachfolger Selenskyj eigentlich nicht.
Einen radikalen Wandel bei Selenskyj sieht auch Heiko Pleines, Leiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Er drückt es gegenüber watson so aus:
In Kriegszeiten ist häufig zu beobachten, dass der Rückhalt des eigenen Volks für die Führung des Landes größer wird. Doch bei Selenskyj ist es mehr als das.
Tim Peters, Leiter des Auslandsbüros Ukraine (Kiew) der Konrad-Adenauer-Stiftung, macht Selenskyjs Erfolg auch an seiner guten Kommunikationsstrategie fest – und an seiner Eigenschaft als Menschenfänger. Peters erklärt im Gespräch mit watson: "Ihm nützen seine besonderen Fähigkeiten, Leute anzusprechen und vor großem Publikum zu reden, jetzt sehr. Er schafft es, die Leute auf einer einfachen Ebene abzuholen."
Dass die Öffentlichkeit nun ungefähr zum Zeitpunkt der Münchner Sicherheitskonferenz offenbar einen "Schalter" wahrnimmt, der bei Selenskyj "umgelegt wurde", begründet Peters damit: "Er ist jetzt nicht mehr in der Rolle des Präsidenten, er ist jetzt in der Rolle des Oberbefehlshabers."
Nachdem russische Staatsmedien Ende vergangener Woche das Gerücht verbreitet hatten, Selenskyj sei aus dem Land geflohen, postete der ein Selfie-Video auf seinem Instagram-Kanal. Zu sehen darin: Er selbst, vor der Präsidialverwaltung in Kyiw, mit seinen Beratern, dem Premierminister und dem Fraktionschef seiner Partei. Selenskyj sagt: "Der Präsident ist hier." Und später: "Wir sind alle hier. Unsere Soldaten sind hier. Wir verteidigen unsere Unabhängigkeit."
Peters kommentiert das so: "Dass er so aktiv auf Social Media ist, ist einer dieser Aspekte, weshalb er gerade so erfolgreich ist. Seine gute Kommunikationsstrategie seit der militärischen Eskalation kann als ganz, ganz großer Vorteil für den Rückhalt in der Bevölkerung angesehen werden." Denn eine Ansprache der Bevölkerung sei in diesen Zeiten genauso wichtig, wie militärische Erfolge, sagt Peters.
Das Instagram-Video verdeutlicht auch den Kontrast zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Putin scheint in eine eigene Welt abzugleiten. Nach einer langatmigen Kriegserklärung und dem Aufruf, das ukrainische Militär solle einen Putsch gegen Selenskyj verüben, beschimpfte er die ukrainische Regierung als "Bande von drogenabhängigen Neonazis", die das ukrainische Volk "als Geisel" genommen hätten. Putins Auftritte finden mehrheitlich im staatlichen russischen Fernsehen oder Radio statt, durch das sich seine russischen Unterstützerinnen und Unterstützer mehrheitlich informieren. Die Kommunikationsstrategie der beiden Männer unterscheidet sich radikal.
Den Kampf um die Herzen der Welt hat Selenskyj längst gewonnen. Der um die Unabhängigkeit der Ukraine geht weiter.