Die Corona-Pandemie hat vor Augen geführt, wie abhängig wir von globalen Lieferketten sind – plötzlich wurden Produkte knapp, die eigentlich im Überfluss vorhanden waren. Auch der russische Krieg in der Ukraine zeigt: Hakt es im System, hat das Auswirkungen auf die ganze Welt. Vom Klima ganz zu schweigen. Schon vor 50 Jahren prognostizierte der "Club of Rome" die Grenzen des Wachstums – auch des Wirtschaftswachstums. Die Menschheit will zu viel von der Welt. Sie verbraucht zu viele Ressourcen.
Ist unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem den Herausforderungen der Zukunft gewachsen? Darüber hat watson mit Experten der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften gesprochen.
Für den Soziologen Klaus Dörre ist die Antwort leicht: Nein.
Dörre ist Professor für Wirtschaftssoziologie an der Uni Jena. Er begründet seine Vehemenz so:
Aus seiner Sicht gibt es zwei Optionen, um das Dilemma zu lösen:
Ersteres sei bisher noch nicht gelungen und letzteres sei keine kapitalistische Gesellschaft mehr. Die aktuelle Situation führe dazu, dass sich Gesellschaften nicht entscheiden könnten, wie sie sich entwickeln wollen. Das wiederum habe zur Folge, dass sich Regierende ständig mit neuen Problemen konfrontiert sähen.
Deshalb träfen sie Entscheidungen, die sie eigentlich nicht treffen wollten: Preisdeckel, Teilverstaatlichung, Verstaatlichung. "Das Ergebnis ist, dass sich der Kapitalismus eigentlich nicht mehr lohnt, wenn man in Rechnung stellt, was die Gesellschaften zu seiner Stabilisierung leisten müssen", sagt Dörre.
Für Dörre kann das System der Zukunft nur ein nachhaltiger Sozialismus sein – nicht nach der Art, wie Sozialismus im industriellen Zeitalter funktioniert. Sondern nach einer ökologisch-sozialen Maxime. Nachhaltige Planwirtschaft – also einer von der Regierung vorgegeben Produktion. Mit einer demokratischen Regierung, die ergänzt wird von Expertenräten mit sozialer oder ökologischer Expertise.
Nie seien die Voraussetzungen besser gewesen als heute.
Dörre sagt:
Jede demokratische Institution müsse mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Was es auch bräuchte, sei ein handlungsfähiger Staat. "Ein starker Staat bringt gar nichts, wenn in dem Apparat lauter Beamte sitzen, die 30 Jahre lang gelernt haben, auf die Wirtschaftsunternehmen zu hören", sagt Dörre. Stattdessen brauche es staatliche Instanzen, die industriepolitische Kreativität und Fantasie entwickelten.
Viele Menschen haben die Hoffnung oder auch die Sorge, dass künstliche Intelligenz eines Tages viele Aufgaben in der Lohnarbeit übernehmen wird. Daran glaubt der Soziologe nicht. Dörre sagt: "Es gibt keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen technologischem Wandel und dem Bedarf an Arbeitskräften."
Zwar bezweifle Dörre nicht, dass es einen digitalen Fortschritt geben wird – aber es sei immer die Frage, ob sich der technologische Fortschritt lohnt, wenn es weltweit Arbeitskräfte gibt.
Doch nicht alle sehen den Kapitalismus so kritisch wie Dörre. Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky widerspricht dem Soziologen nicht nur in puncto Lohnarbeit.
Insgesamt, meint Jánszky im Gespräch mit watson, könne das kapitalistische System soziale Ungleichheit und Unzufriedenheit besser ausgleichen, als das sozialistische System. Denn: In einem marktwirtschaftlichen System gibt es den Wettbewerb. Oftmals gibt es in diesen Systemen auch Demokratie.
Das gesellschaftliche Klima dürfte in den kommenden Monaten rauer werden, aber unser System müsse das aushalten. Es sei aber so, dass viele Menschen die Hoffnung auf die Entwicklung eines Mischsystems teilten. Denn: Auch das kapitalistische System hat seine Schwächen. "Alles, was keinen Preis hat, fällt hinten runter. Das haben wir beim Klima gesehen", sagt Jánszky.
Er führt aus:
Mit der CO2-Abgabe wird sich daran nun etwas ändern.
Nur Menschen, die Hoffnung haben, werden etwas ausprobieren, meint Jánszky. Der Zukunftsforscher geht davon aus, dass bis 2050 ein Großteil der Lohnarbeit von Maschinen mit künstlicher Intelligenz erledigt werden wird. Die Menschen, deren Jobs dann von der Technik übernommen würden, könnten ihre Zeit anders nutzen. Diese Idee geht einher mit einem Grundeinkommen.
Jánszky sagt:
Klar sei aber auch: Zukunftsforschung ist keine Wahrsagerei. Prognosen können so oder so ähnlich eintreffen, es kann aber auch anders kommen.
Auch für Peter Bofinger stellt sich die Frage nach dem System nicht. Er stellt klar: Die Welt ist instabil. Die aktuelle Situation stelle also die Welt als solche infrage – und unser Sicherheitsempfinden. Bofinger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg.
"Wir können heute besser mit dieser Unsicherheit umgehen, als unsere Vorfahren", sagt er im Gespräch mit watson. Und: Unsicherheiten – auch wirtschaftlicher Natur – hätten schon immer dazu gehört.
Bofinger nennt die Jahre 1973 und 1974: die erste Ölkrise. Damals habe es auch eine hohe Inflationsrate gegeben. Viel Arbeitslosigkeit, Rezession. Der Wirtschaftsexperte stellt aber klar: "Die Herausforderung, die jetzt auf uns zukommt, übertrifft alles, was wir in der Nachkriegszeit bisher erlebt haben." Die Energiekrise und die damit verbundenen Preissteigerungen stellten eine neue Qualität an Herausforderungen dar.
"Der Sozialismus ist keine Lösung für die jetzigen Probleme", stellt der Ökonom klar. Was es aber brauche: einen starken Staat. Gerade in Krisenzeiten könne die Regierung die Bevölkerung nicht dem Markt überlassen. Und, wie die Entlastungspakete zeigen, tut sie das auch nicht. "Das ist das Gute an unserem System, hier heißt es nicht, wer stirbt, stirbt", sagt Bofinger.
Bofinger geht wie Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) davon aus, dass es ab Frühjahr wieder bergauf gehen könnte.
Bofinger sagt:
Was es außerdem brauche, sei die Re-Globalisierung, sagt Bofinger. Was der Wirtschaftsexperte damit meint: Die Welt ist groß. Statt Produkte nur aus wenigen Ländern zu beziehen, müsste der Einkauf mehr gestreut werden. Und: Kritische Infrastruktur sollte zurück nach Europa geholt werden.