Die Brandmauer ist gefallen, lang lebe die Brandmauer. Nachdem Friedrich Merz am Mittwoch einen Entschließungsantrag zur Migration – der Nebelkerze im politischen Pyrokoffer – erstmals gemeinsam mit Stimmen der AfD beschlossen hat, ging es am Freitag um Handfestes.
Das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz stand zur Debatte, das anders als der schrill leuchtende, aber rechtlich nicht bindende Antrag tatsächlich Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Und was vor wenigen Tagen noch undenkbar war, drohte sich als gängige Praxis zu etablieren: dass Vorhaben durch die in weiten Teilen rechtsextreme AfD eine Mehrheit erlangen.
Doch dieses Vorhaben scheiterte. Der Gesetzesentwurf der Union bekam nach einem bemerkenswerten Hin und Her im Parlament von den Bundestagsabgeordneten keine Mehrheit. Sprich: Er wurde abgelehnt.
Im Gesetzesentwurf des Zustrombegrenzungsgesetzes geht es im Allgemeinen um eine Verschärfung der Migration. Konkret beinhaltet er drei Punkte:
Wenn man sich ohnehin schon nicht sicher war, ob man nun gerade eine politische Debatte oder eine Folge "House of Cards" verfolgt, sorgte der übertragende Sender im Vorfeld für weitere Verwirrung. "Das Zustrombegrenzungsgesetz ab 10.30 hier live bei Phoenix", versprach der Kommentator, sodass man sich kurz versichern möchte, ob hier nicht gerade Frank Buschmann am Mikrofon sitzt.
Als die Debatte dann auf Bitte der CDU unterbrochen wurde, entschuldigte er sich bei allen, "die sich vor dem Fernseher eingerichtet" und die "spannende" Diskussion erwartet hatten.
Unions-Fraktionschef Thorsten Frei hatte beantragt, die Debatte für eine halbe Stunde zu unterbrechen, um eine Fraktionssitzung abzuhalten. Auch die anderen Parteien fanden sich zu Fraktionssitzungen unter- und miteinander zusammen.
Die Debatte begann mehr als drei Stunden später, was in der Zwischenzeit passiert ist, wird vorerst nicht abschließen zu klären sein. Die Frage: Sind die Verhandlungen vom Vormittag sabotiert worden – und falls ja, von wem?
Grüne und SPD, vertreten durch Annalena Baerbock und Rolf Mützenich, warfen der Union vor, kompromisslos an ihrem Gesetzentwurf festzuhalten und so Mehrheiten außerhalb der AfD zu verhindern. Die Union hingegen, vertreten durch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, wies dies zurück und betonte, Rot-Grün habe jegliche Kompromisse verweigert. FDP-Fraktionschef Christian Dürr unterstützte diese Darstellung.
Was bleibt also nun von diesem Tag übrig? Watson hat fünf Lehren aus der Debatte gezogen.
Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock hat in ihrer Rede das angesprochen, was Medienberichten zufolge mittlerweile auch viele in der CDU meinen: dass sich Merz aus Aktionismus heraus hat hinreißen lassen, mit seinen kompromisslosen Vorstößen in die erste Reihe zu preschen – ohne klar abzusehen, was eine Abstimmung an der Seite der AfD bedeuten könnte.
"Verantwortung heißt auch, sich korrigieren zu können", sagte Baerbock am Freitag. "Wahre Größe heißt, einen Schritt zurückzutreten und zu wissen: Es geht nicht um einen selbst, sondern es geht um Deutschland, um unser Land."
Auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, der die Debatte eröffnet hatte, appellierte an einen Richtungsschwenk der Union. "Die Lebensader der Demokratie wurde vor zwei Tagen beschädigt, aber noch nicht zerschnitten".
"Der Sündenfall", sagte Mützenich weiter, "wird Sie für immer begleiten. Aber das Tor zur Hölle können wir noch schließen". Zum Abschluss appellierte er: "Sie müssen die Brandmauer wieder hochziehen! Mindestens darf unser Land heute nicht kippen! Kehren Sie zurück in die Mitte der Demokratie."
Und Merz? Beharrte darauf, dass die Abstimmung "in der Sache richtig" gewesen sei. Seine Reden sind wie eine Dampflokomotive; erst langsam und behäbig, dann kommt er ins Rollen und donnert schließlich dampfend davon.
Zuerst versuchte er die Debatte weg von der AfD zu lenken, hin zu der Migrations- und Sicherheitspolitik. Er warf Mützenich vor, die Opfer von Aschaffenburg in einer Rede nicht erwähnt zu haben. Irgendwann redete er von "täglich" stattfindenden "Gruppenvergewaltigungen" aus dem "Asylmilieu". Er betonte: "Diese Abstimmung sagt etwas darüber aus, ob dieser Deutsche Bundestag noch handlungsfähig und funktionsfähig ist."
Gleichzeitig wurde Merz in seiner Glaubwürdigkeit auch von Rechtsaußen attackiert. Entscheidend beim Votum vom Mittwoch sei "das Zusammenwirken von Blau und Schwarz" gewesen, sagte der AfD-Politiker Bernd Baumann.
Der Union sei nicht zu trauen, diese Mehrheit zu nutzen, stattdessen werde sie mit Grünen oder SPD koalieren.
Friedrich Merz und die Unionsfraktion stehen also von zwei Seiten unter Beschuss: SPD und Grüne zweifeln ihre Glaubwürdigkeit an, wenn es um das Versprechen geht, keine Koalition mit der AfD einzugehen. Gleichzeitig kritisiert die AfD die Union dafür, eine Migrationspolitik zu vertreten, die ohne ihre Stimmen nicht durchsetzbar wäre, dabei aber eine Zusammenarbeit mit ihr ausschließt – und wirft ihr damit ebenfalls Unglaubwürdigkeit vor.
Es ist ein Vabanque-Spiel: Merz will Entschlossenheit in der Migration zeigen und gleichzeitig nicht in die undemokratische Ecke gestellt werden. Ob das aufgeht, ist unklar.
Merz betonte aber weiter, man müsse "miteinander gesprächsfähig sein und bleiben". SPD und Grünen warf er unversöhnliches Verhalten vor. Genau der Merz, der nach dem Attentat von Aschaffenburg erklärt hatte, die Zeit für Kompromisse sei vorbei.
Dabei scheint zumindest eine schwarz-grüne Koalition immer unwahrscheinlicher. Annalena Baerbock und Thorsten Frei, eigentlich als Pragmatiker:innen und Befürworter:innen einer schwarz-grünen Zusammenarbeit bekannt, bezichtigten sich in einem hochkochenden Schlagabtausch über die Abstimmung eines Sicherheitspakets mehrfach der Lüge.
Baerbock sei unwillig gewesen, die Migration tatsächlich zu begrenzen. Tatsächlich hat die Union allerdings Teile eines Sicherheitspakets im Bundesrat gestoppt.
Die Wahrheit fiel im Laufe des Tages mehrfach dem Ringen des Wahlkampfes zum Opfer – neben der eingangs erwähnten Rätsel über die Gespräche in den Fraktionssitzungen.
Union und FDP behaupteten mehrfach, dass die Wahlprogramme von SPD und Grünen Forderungen enthielten, die auch im Gesetzentwurf der Union stehen. Tatsächlich betont das SPD-Wahlprogramm die Bedeutung der Familienzusammenführung für subsidiär Schutzbedürftige als entscheidenden Faktor für Integration.
Zudem gibt es darin keine Hinweise auf eine Ausweitung der Abschiebehaft, wie sie die Union fordert. Auch im Wahlprogramm der Grünen finden sich weder Forderungen nach einer Abschaffung des Familiennachzugs noch nach einer Verschärfung der Abschiebehaft.
FDP-Fraktionsvorsitzender Christian Dürr inszenierte sich als nimmermüder Brückenbauer, dessen Partei eigenhändig die Aufrechterhaltung der Demokratie auf ihrem Rücken trägt. Die FDP, so betonte er fortwährend, habe für den Dialog der demokratischen Parteien gesorgt, allein: Grüne und SPD seien nicht kompromissbereit gewesen.
Die Liberalen hatten zunächst als Lösung vorgeschlagen, den Gesetzesentwurf zurück in die Ausschüsse zu schicken und so einen möglichen Beschluss mit entscheidenden Stimmen der AfD zu verhindern.