Bundespräsident der Schweiz Ignazio Cassis zeigt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel Lugano.Bild: KEYSTONE / MICHAEL BUHOLZER
Analyse
Am Montag und Dienstag findet in Lugano die Ukraine-Konferenz statt. Ein Stimmungsbericht aus einer Stadt, die gar nicht mal so stark im Ausnahmezustand ist.
05.07.2022, 10:1105.07.2022, 11:35
corsin manser / watson.ch
Die Sonne zeigt sich pünktlich
Oben beim Bahnhof Lugano kann man bei einem Espresso für 2.30 Franken eine wunderbare Aussicht genießen. Über die Stadt, über den blau schimmernden See und die saftig grünen Hügel. Die Heimat von Bundespräsident Ignazio Cassis ist wahrlich Postkarten-tauglich. Besonders dann, wenn die Sonne scheint.
Bei der Begrüßung von Ursula von der Leyen braucht es noch Regenschirme.Bild: KEYSTONE / ALESSANDRO DELLA VALLE
Und das tut sie. Pünktlich zum Auftakt der Ukraine-Konferenz verziehen sich die Regenwolken. Schnell können die Regenschirme über Ursula von der Leyen, Denys Schmyhal und Cassis zugeklappt werden.
Beim Spaziergang durch den fein herausgeputzten Parco Ciani kann der Tessiner seinen Gästen ein Lugano zeigen, das sich von seiner besten Seite präsentiert. Die Fotos mit den Konferenz-Teilnehmenden werden bei Sonnenschein gemacht. Perfektes Standortmarketing, denn diese Bilder werden um die Welt gehen.
Das Gruppenfoto bei perfektem Wetter, ehe es am Abend noch einmal ein kräftiges Gewitter gibt.Bild: KEYSTONE/FDFA / MICHAEL BUHOLZER
Großes Sicherheitsaufgebot
Am Bahnhof wird schnell klar, dass in Lugano etwas anders ist als sonst. Zahlreiche Polizisten patrouillieren auf den Perrons. Wie hoch die Sicherheitskosten für die Ukraine-Konferenz sein werden, kann noch nicht genau gesagt werden. Cassis sprach zuletzt von mehreren Millionen.
Die Hauptverantwortung für die Sicherheit liegt bei der Tessiner Kantonspolizei. Unterstützt wird sie von bis zu 1600 Armeeangehörigen und Polizisten aus anderen Kantonen. Dies ist auch der Grund, weshalb sich die Polizisten am Bahnhof zu einem großen Teil auf Schweizerdeutsch unterhalten.
Runter in die Altstadt geht es per Funicolare. Auch dort ist das Aufgebot an Sicherheitskräften groß. Die Polizei steuert mit ihren Einsatzwagen durch die engen Gassen der Stadt.
Polizeiabsperrungen auf den Straßen Luganos.Bild: KEYSTONE / MICHAEL BUHOLZER
Immer wieder wird es ohrenbetäubend laut. Dann nämlich, wenn einer der Militärhelikopter tief über die Stadt fliegt. Das Geräusch ratternder Rotoren ist omnipräsent. Auf dem See sind zwei Boote der Seepolizei unterwegs, unterstützt werden sie durch die Grenzwache.
Touristen wissen nicht, was vor sich geht
Zu behaupten, ganz Lugano befinde sich im Ausnahmezustand, wäre falsch. In der Altstadt und etwas außerhalb nimmt das Leben seinen normalen Lauf. Touristen schlendern in Gruppen der Seepromenade entlang, Einheimische trinken Café in ihrer Stammbar, Schulklassen aus der Deutschschweiz bevölkern Bahnhof und Busse.
Für die Bevölkerung ist nur ein relativ kleiner Teil der Stadt abgesperrt. Dieser befindet sich rund um den Parco Ciani. Der Rest ist frei begehbar. Am Schiffssteg, wo die Ausflugsboote nach Melide, Morcote und Co. ablegen, herrscht gegen Mittag reger Betrieb. Der Ticket-Verkäufer meint, die Konferenz störe ihn überhaupt nicht. Es habe so viele Touristen wie auch sonst. "Heute ist ein normaler Tag wie immer", sagt er lachend.
Beim Hotel-Eingang hängt gut sichtbar ein Schild mit der Aufschrift "completo". Sie seien tatsächlich ausgebucht, teilt die Frau an der Rezeption mit. Aber in anderen Hotels gebe es trotz der Konferenz immer noch Zimmer. "Ich habe ein viel größeres Chaos erwartet", sagt sie. Tatsächlich sind von Montag auf Dienstag immer noch Hotelzimmer zu einem einigermaßen erschwinglichen Preis zu haben. Ein großer Unterschied etwa zum WEF, bei dem für Übernachtungen regelrechte Fantasiepreise bezahlt werden müssen.
Die Touristen scheinen größtenteils nicht gewusst zu haben, dass in Lugano eine internationale Konferenz stattfindet. Eine Reisegruppe aus Ungarn wirkt völlig überrascht, als wir davon erzählen.
Nur ein kleiner Teil der Stadt ist abgesperrt.Bild: KEYSTONE/TI-PRESS / Massimo Piccoli
Überhaupt nicht mit einer Konferenz gerechnet haben auch Mikhail und Polina. Und das, obwohl sie aus der Ukraine kommen. Nach Ausbruch des Krieges sind sie in die Schweiz geflüchtet und arbeiten nun auf einem Bauernhof im Thurgau. Ihren freien Tag wollten sie nutzen, um Lugano zu besuchen und ein Bad im See zu nehmen. Doch das geht nicht. "Wir wollten da vorne ins Wasser steigen, doch es ist alles abgesperrt", erzählt Mikhail, der aus Krementschuck stammt. Jener Stadt, in der kürzlich ein Einkaufszentrum von den Russen zerbombt wurde. Als sie hören, dass im Park nebenan der Wiederaufbau der Ukraine organisiert wird, ist der Frust über den verpassten Schwumm schnell verflogen. Das finden sie natürlich eine gute Sache.
Kleine Aktionen für die Bevölkerung
Gänzlich hinter verschlossenen Gittern findet die Konferenz nicht statt. Mit einem Rahmenprogramm will Cassis die Einheimischen teilhaben lassen am diplomatischen Großevent. An der Seepromenade sind mehrere Informationstafeln aufgestellt, auf denen zu sehen ist, was das Tessin mit der ukrainischen Hafenstadt Odessa verbindet. Ein Publikumsmagnet sind diese Tafeln jedoch nicht.
Auf der Piazza Manzoni, mitten in der Altstadt, finden sowohl am Montagabend als auch am Dienstagabend Konzerte statt. Die Leute kommen denn auch tatsächlich. Als um 21 Uhr "Dakhabrakha" auftritt, ein World Music Quartet aus Kiew, ist der Platz gut gefüllt. Im Publikum sind überall ukrainische Fahnen zu sehen.
Der Medienrummel hält sich in Grenzen
Rund 270 Journalisten hätten sich für die Konferenz akkreditiert, teilt man uns beim Medien-Center mit. Zum Vergleich: Als sich vor einem Jahr Joe Biden mit Wladimir Putin in Genf traf, reisten 1500 Journalisten an. Beim Point de Presse mit Cassis und Simonetta Sommaruga ist der Raum dennoch sehr gut gefüllt. Zumindest die schweizerische Presse ist sehr interessiert an der Konferenz in Lugano.
Dennoch wird schnell klar: Hier in Lugano ist alles etwas kleiner als beim russisch-amerikanischen Gipfel in Genf. Die Veranstalter um Cassis hätten sich vielleicht ein paar Autokorsos, Presseteams und Delegationen mehr gewünscht. Die Bewohnerinnen Luganos können ob des eher bescheidenen Ausmaßes der Konferenz hingegen glücklich sein. Sie werden Zeuge eines möglicherweise historischen Moments, ohne in ihrem Alltag groß eingeschränkt zu sein.
Der Krieg in der Ukraine produziert auch nach zweieinhalb Jahren neue Superlative des Grauens. Als besonders brutal stellen sich immer wieder russische Truppen heraus. Die Vorwürfe reichen von Missbrauch, Entführung von Zivilist:innen und Kindern, bis hin zu systematischer Folter, Vergewaltigung und Mord.