Kurz vor den Militärparaden am 9. Mai werde Moskau von einer "nie dagewesenen Nervosität" erfasst, berichtete der "Guardian"-Reporter Pjotr Sauer am Sonntag.
Tatsächlich haben Wladimir Putin und seine Gefolgsleute allen Grund, nervös zu sein: Ukrainische Drohnen-Konstrukteure wollen den wichtigsten Propaganda-Auftritt des russischen Despoten am Dienstag empfindlich stören.
Ein ukrainischer Geschäftsmann hat ein Preisgeld von umgerechnet etwa 500.000 Euro ausgelobt. Oder müsste man vielleicht eher von einem "Kopfgeld" sprechen?
Wenn Putin am Dienstag auf dem Roten Platz in Moskau die Bühne betritt, um den historischen Sieg über Nazi-Deutschland zu feiern, wollen ukrainische Drohnen-Bauer den Russen eine andere Botschaft übermitteln: die Botschaft vom ungebrochenen Verteidigungswillen ihres Heimatlandes.
Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" hat am vergangenen Samstag ein brisantes Interview mit dem ukrainischen Geschäftsmann Wolodymyr Jazenko veröffentlicht.
Darin erklärt der umtriebige Unternehmer, bei den vermeintlichen Drohnen-Attacken von letzter Woche habe es sich lediglich um einen Testflug gehandelt.
Jazenko, der selber Drohnen entwickeln lässt, hatte Anfang April in seinem Heimatland einen speziellen Wettbewerb ins Leben gerufen: Wer es schaffe, am 9. Mai mit einer Drohne den Roten Platz in Moskau zu erreichen, soll ein Preisgeld von umgerechnet rund 500.000 Euro erhalten.
Erklärtes Ziel ist es, die ukrainischen Tech-Hersteller "zu ermutigen und zu drängen, mehr Drohnen mit einer größeren Reichweite zu bauen" und deren technischen Eigenschaften zu verbessern, wie Jazenko dem "Spiegel" bestätigte.
Er wisse sehr genau, wer die Drohnen geschickt habe, wolle diese Information aber "in Anbetracht der bevorstehenden, noch nicht abgesagten Parade auf dem Roten Platz nicht preisgeben", sagt Jazenko. Und betont: Die kleinen Fluggeräte hätten definitiv keinen Sprengstoff mitgeführt.
Das muss natürlich nicht heißen, dass auch zukünftige Drohnen ohne Sprengstoff nach Moskau fliegen...
Das ist nicht bekannt.
Glaubt man den Äußerungen des ukrainischen Geschäftsmannes, dann ist am 9. Mai kein Anschlag auf Putin oder die Paradenteilnehmer geplant. Oder doch?
Wahrscheinlich geht es um einen PR-Coup, indem aller Welt die Schwäche der russischen Luftraumsicherung demonstriert und die Armeeführung zum Gespött gemacht wird.
Unklar ist auch, ob die ukrainische Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj von den Plänen der Wettbewerbsteilnehmer weiß. Denn ein solches Vorhaben ist riskant und könnte massive Vergeltungsmaßnahmen auslösen.
Aus geleakten US-Geheimpapieren wissen wir, dass der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes am 24. Februar Attacken auf die russische Hauptstadt plante. Dies wurde jedoch angeblich durch die US-Regierung verhindert.
Jazenko, ein ausgebildeter Ingenieur und Pilot, der als Mitgründer der ukrainischen Online-Bank Monobank reich wurde, beschäftigt sich gemäß eigenen Angaben seit der russischen Annexion der Krim 2014 mit dem Drohnenbau.
Seit der Invasion 2022 finanziert er ein eigenes Entwicklungsteam und lässt eine Aufklärungs- und Kampfdrohne bauen, die er der ukrainischen Armee zur Verfügung stellt.
Ein bei YouTube veröffentlichtes ukrainisches Propaganda-Video zeigt den Start einer solchen Aufklärungsdrohne vom Typ "Dowbusch T10" von einem fahrenden Pick-up.
Ende Dezember 2022 hieß es, die Serienproduktion der neuen Aufklärungsdrohnen habe begonnen und man prüfe auch, eine Variante für Kamikaze-Einsätze zu entwickeln.
Die fortschrittliche Ausrüstung und Software mache die Dowbusch-Drohne praktisch "unverwundbar" – sie kann angeblich die russische Luftverteidigung überlisten und auch elektronische Kriegsführung könne ihr wenig anhaben.
Bekanntlich wehrt sich Russland gegen die Drohnen, indem es das Satellitennavigationssystem stört und überall Waffensysteme aufstellt, die Drohnen abschießen können. Das sei aber nicht wirklich effektiv, denn ukrainische Spezialisten hätten eine Alternative zur GPS-Navigation entwickelt.
Was die genaue Funktionsweise betrifft, lässt sich Jazenko verständlicherweise nicht in die Karten blicken. Dem "Spiegel" sagte er, dass die Russen zwar die Satelliten-Kommunikation stören könnten, aber nicht das Signal einer Videokamera. Die Drohnen-Software verarbeite die Bilder der Kamera und ermögliche es dem Fluggerät, im Raum zu navigieren.
Und er bestätigt gegenüber der "Spiegel"-Journalistin, dass sich demnach der Kreml nicht komplett vor entsprechenden Drohnen-Anflügen schützen könne.
Laut Wetterprognose ist es am Dienstag in der russischen Hauptstadt bewölkt und teilweise sonnig, bei milden 14 Grad Celsius. Mit stärkeren Winden ist laut Meteorologen nicht zu rechnen. Und es soll keine Niederschläge geben. Jedenfalls keine natürlichen, wie Regen, Hagel oder Schnee.
Man könnte von perfektem Flugwetter sprechen.
Ein Verzicht käme einer schweren Niederlage gleich. Allerdings ist fraglich, wie und wo sich Putin zeigen wird.
"Es gibt eine Nervosität, die ich noch nie zuvor gesehen habe", zitiert der "Guardian" einen Beamten im Büro des Moskauer Bürgermeisters. Aber der Tag des (sowjetischen) Sieges müsse stattfinden, es gebe keine andere Option.
Die Behörden hätten den Einsatz von Drohnen verboten und damit begonnen, GPS-Signale zu stören. Und der Polizei seien "hastig Ferngläser ausgehändigt" worden, um ankommende unbemannte Fluggeräte zu erkennen.
Bezeichnenderweise habe Putin am vergangenen Freitag den ungewöhnlichen Schritt unternommen, die Vorbereitungen für die Siegesparade am 9. Mai bei einem Treffen mit seinem Sicherheitsrat zu erörtern. Dieses Gremium setzt sich aus Russlands höchsten Staatsbeamten und Leitern der Verteidigungs- und Sicherheitsbehörden zusammen.
Enorm wichtig. Aus Propaganda-Zwecken.
Am 9. Mai feiert Russland traditionell das Ende des "großen Vaterländischen Krieges", den Sieg über Nazi-Deutschland. In den 23 Jahren seiner Amtszeit habe sich dieser Gedenktag allmählich "zum Kernstück von Wladimir Putins Vision der russischen Identität entwickelt", so der "Guardian".
Für Putin sei es bei Weitem das wichtigste Ereignis des Jahres, wird Andrei Kolesnikov, Forscher am Carnegie Endowment for International Peace mit Sitz in Moskau, zitiert.
Putin beziehe seine gesamte Legitimität aus der Parade und bezeichne sich selbst als direkten Nachfolger der Armee, die Nazideutschland besiegt habe. Angesichts dieser Bedeutung für den Kreml müsse die Parade stattfinden.
Die in mehreren russischen Städten geplanten Paraden könnten auch aufzeigen, wie der Angriffskrieg gegen die Ukraine der russischen Armee geschadet hat. Bekanntlich gab es seit der Invasion im Februar 2022 massive Verluste.
Der Guardian zitiert Dara Massicot, eine leitende Politikforscherin bei der Rand Corporation:
Anzumerken ist, dass die Rand Corporation ein Think Tank ist, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde, um die Streitkräfte der USA zu beraten.
Eine der bekanntesten Veranstaltungen des 9. Mai haben die Verantwortlichen im Kreml bereits gestrichen: der Marsch des Unsterblichen Regiments – eine Prozession von Menschen mit Porträts ihrer Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg.
Laut der Politikforscherin Massicot dürften die russischen Behörden befürchten, dass die Prozession am Ende die tatsächliche Zahl der russischen Verluste in der Ukraine hervorheben könnte. Nämlich dann, wenn Angehörige die Porträts der im aktuellen Krieg getöteten Soldaten mitführen.
Mindestens sechs russische Regionen haben laut "Guardian" die Feierlichkeiten am 9. Mai ganz gestrichen.