
Eine Gruppe von Migranten feiert, dass sie die Überfahrt von Afrika nach Europa überlebt hat, Minuten bevor sie in den kanarischen Hafen La Restinga einlaufen.Bild: imago images / Ximena Borrazas
Analyse
Sie sitzen eng beieinander auf einem kleinen Boot. Die Wellen schaukeln sie hin und her. Viele von ihnen können nicht schwimmen. Die salzige Luft klebt an ihrer Haut, vermischt sich mit Schweiß, der sich in der Hitze der mediterranen Sonne bildet.
Wo die einen Urlaub machen, fürchten die anderen um ihr Leben: Das Mittelmeer zählt zu den gefährlichsten Fluchtrouten der Welt. Trotzdem riskieren viele die Überfahrt. Menschen vom afrikanischen Kontinent fliehen vor Gewalt, Terror, Armut und Perspektivlosigkeit in ihren Heimatländern.
Neben der Mittelmeerroute wagen sie zunehmend den Weg über den Atlantik.
Migration: Geflüchtete meiden Mittelmeer wegen strengerer Überwachung
"Die Ankünfte aus Afrika über das Mittelmeer gehen insgesamt zurück, aber Westafrika ist am Kommen. Die Seeroute auf die Kanarischen Inseln boomt", sagt Sahel-Experte Ulf Laessing im Gespräch mit watson.
Die Schmuggler satteln ihre Geschäfte auf diese Fluchtroute um. Von Mauretanien aus starten die Menschen mit Booten zu den Inseln, die zu Spanien und damit zur EU gehören. Das mache das Land zu einem "idealen Transitland", meint Laessing.
Er leitet das Regionalprogramm Sahel für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung und ist selbst vor Ort in Mauretanien. Zuvor war er in Niger unterwegs, wo er ebenfalls ein blühendes Schmuggler-Geschäft vorfand. Aber: "Wer durch Niger kommt, muss erst noch Libyen durchqueren, wo viele Gefahren drohen wie Folter und Erpressung durch Milizen", sagt er.
Dazu kommt, dass die Seeroute von Mauretanien nicht so stark überwacht wird wie die Mittelmeerküste. "Die EU und Italien haben die Küstenwachen von Libyen und Tunesien stark aufgerüstet. Rund 90 Prozent aller Abfahrten von dort werden derzeit gestoppt", sagt Laessing.
Mauretaniens fast 800 Kilometer lange Küste werde hingegen kaum kontrolliert. Aber sie birgt größere Gefahren.
Atlantik-Route ist länger und gefährlicher für Flüchtende
Bei der fast siebentägigen Überfahrt kentern viele Boote wegen der unberechenbaren Atlantikströme, sagt der Experte. Er geht davon aus, dass auf der Atlantikroute mehr Menschen ertrinken als im Mittelmeer.
Allein von Januar bis April 2024 starben nach Angaben der Migrationsrechtsorganisation "Walking Borders" fast 3600 Menschen bei dem Versuch, die spanische Inselgruppe zu erreichen. Trotz der Gefahren hat sich 2024 die Zahl der Mali-Geflüchteten nach Mauretanien beinahe verdoppelt, sagt Laessing.
Armut, Diskriminierung, Gewalt, aber auch Militäroperationen russischer Söldner vertreiben die Menschen. Die meisten Malier:innen gehören Laessing zufolge der Gruppe der Fulbe an, "denen Russen pauschal vorwerfen, mit den Dschihadisten zusammenzuarbeiten".
Fulbe sind Viehhirten, die in Mali mit Bauern um Zugang zu Wasser und Land konkurrieren und häufig dabei den Kürzeren ziehen. Viele Fulbe haben sich daher Dschihadisten angeschlossen, die in Mali und anderen Ländern des Sahel auf dem Vormarsch sind.
"Rund 110.000 Malier sind 2024 nach Mauretanien geflohen, wo schon mehr als 100.000 in einem Camp an der Grenze leben", sagt Laessing. Da sie auf absehbare Zeit nicht nach Mali zurückkehren könnten, versuchten sie verstärkt, per Boot nach Spanien zu kommen. Für 2025 rechnet Mauretanien mit 318.000 Mali-Geflüchteten.
Laut Laessing hat die Polizei Straßensperren errichtet, um malische Geflüchtete ohne spezielle Genehmigung an der Reise zur Küste zu hindern. "Die Malier dürfen sich demnach nur im Umfeld eines Camps im Südosten an der Grenze zu Mali aufhalten", sagt er.
Neben Mali nutzen auch Menschen aus Marokko und Senegal die Route zu den Kanarischen Inseln. Zudem seien die ersten Geflüchteten aus Somalia und Syrien in Mauretanien gesichtet worden.
Seit Januar gebe es ein Online-Visum, um die Migration aus Indien, Pakistan und Bangladesch einzudämmen, sagt Laessing. Denn auch aus diesen drei Ländern seien die Einreisen in den vergangenen Monaten gestiegen, um von dort per Boot weiterzureisen.
EU-Vorgehen könnte Lage in Mauretanien anheizen
Laut Laessing ist die Westatlantik-Route nun der Hauptfluchtweg nach Europa. Die östliche und zentrale Mittelmeerroute ist ihm zufolge zwar zahlenmäßig noch wichtiger, aber die Mauretanien-Route ist die am schnellsten wachsende.
Die spanische Guarda Civil sei bereits mit Booten im Hotspot Nouabhibou präsent. Denn von der nördlichen Hafenstadt ist die Route auf die Kanarischen Inseln am kürzesten.
Doch die Hilfe der spanischen Grenzbeamten und damit der EU dürfte soziale Spannungen in Mauretanien anheizen, befürchtet der Sahel-Experte. In Mauretanien gebe es bereits Konflikte zwischen einer arabischsprachigen Elite und Menschen, die früher Sklav:innen waren und ihre Wurzeln in Schwarzafrika sehen, sagt Laessing. Diese würden sich über Diskriminierung am Arbeitsplatz beklagen.

Mauretanien gehört zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt.Bild: imago images / kaikups
"Je mehr Migranten aus Mali und Senegal durch eine bessere Überwachung der Küste an der Weiterreise gehindert werden, desto mehr Menschen werden mit Einheimischen um Jobs konkurrieren", führt der Experte aus.
Das Resultat: Es werden noch mehr Menschen aus dem Land fliehen. Dennoch werde die EU jetzt wie in Niger und Libyen versuchen, Mauretaniens Küstenwache zu unterstützen.
Eine Entwicklung, die einem weiteren Akteur in die Hände spielt: Russland.
Westafrika: Fluchtrouten boomen auch durch Russlands Einfluss
Experten warnen, dass Kreml-Chef Wladimir Putin Migration als "Waffe" gegen Europa einsetzt. Die aufgeheizte Debatte seit der Bundestagswahl zeigt, wie sehr das Thema Deutschland spaltet und damit politisch schwächt.
Während Europas Fokus den USA unter Donald Trump, der russischen Invasion in der Ukraine und dem Nahostkrieg gilt, wälzt Russland die Sahel-Zone in Afrika um.
Frankreich und andere europäische Staaten mussten sich in den vergangenen Jahren aus dem Sahel zurückziehen. Seither füllt der Kreml das Vakuum und bietet etwa Wagner-Söldnerdienste an. "Die Russen hoffen sicher auch, dass mehr Migranten nach Europa kommen, was man mit der steigenden Ankunft von Maliern in Mauretanien gut beobachten kann", meint Laessing.
Aber mit dem Fall des syrischen Diktators und Verbündeten Baschar al-Assad könnte Russland ein Problem bekommen.
"Die Flugdistanz von Russland nach Afrika ist zu weit, daher wurden die russischen Versorgungsmaschinen immer in Syrien aufgetankt", erklärt Laessing. Der Kreml wolle die Versorgung der Wagner-Söldner nach Libyen verlagern, hat dort aber keine Marinebasis wie in Syrien und müsste viel mehr fliegen. Daher geht Laessing davon aus, dass Russland seine Operationen in Afrika verringern muss.