Triggerwarnung: Im folgenden Text werden sexualisierte Gewalthandlungen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.
Erst nahmen sie ihren Mann, dann ihren Körper und am Ende hielt sie ihren toten Sohn in den Armen. Ein Schicksal, das viele Frauen im Sudan teilen. Sie alle besitzen tiefe Narben; grausame Geschichten, die sie erzählen könnten, aber kaum einer hört zu.
Die Menschen im Sudan leiden im Schatten der geopolitischen Hotspots: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, Gaza-Krieg oder den neuesten Post des designierten US-Präsidenten Donald Trump.
Im Sudan herrscht nach wie vor die weltweit schlimmste humanitäre Krise – der wohl aktuell größte vergessene Krieg. Durch die Kämpfe zwischen der sudanesischen Armee und der Rapid Support Forces (RSF) mussten Millionen Menschen fliehen und stehen vor dem Nichts. Die Lage ist besonders für Frauen dramatisch.
"Eine Frau bleibt mir besonders im Gedächtnis", sagt Belkis Wille im Gespräch mit watson. Für die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" reiste sie im Oktober 2024 ins Kriegsland und sprach mit mehreren Sudanesinnen.
Eine Sudanesin habe Wille erzählt, wie die RSF-Kämpfer in ihr Haus drangen und alle Männer töteten. "Nach unserem Gespräch wusch sie ihren Sohn, der so dünn und zerbrechlich war, weil es nicht genügend Nahrung gibt", erinnert sich Wille an die Begegnung.
Als stellvertretende Direktorin in der Abteilung Krisen, Konflikte und Waffen bei "Human Rights Watch" ist sie mit den Grausamkeiten der Welt vertraut. Doch hierbei pausiert sie für einen kurzen Moment, sucht nach Worten.
"Er starb am nächsten Tag", sagt sie dann frei heraus. Das sei unvorstellbar. "Dieser Schmerz: Erst verliert sie ihren Vater und Mann, erfährt sexualisierte Gewalt, dann muss sie flüchten und anschließend ihren Sohn begraben", führt Wille aus. Seit 2022 dokumentiert sie Verstöße gegen das Kriegsrecht in Gaza, Israel, Sudan und der Ukraine.
Die Frage, ob diese Frauen im Sudan wütend seien, so wenig internationales Interesse zu erhalten, verneint sie. Es sei mittlerweile "normal". Auch die Sudanesinnen haben sich laut ihr mit dem globalen Desinteresse an ihrer Situation abgefunden. "Sie erwarten nicht mal mehr irgendwas", meint Wille.
"Die Sudanesen erhalten das Gefühl, dass wir als globale Gesellschaft ihr Leben als weniger wertvoll schätzen. Das ist sehr bedenklich", sagt sie. Der aktuelle Krieg steht laut Wille kaum im Fokus, etwa weil ihn viele Menschen wohl weniger als neu oder akut wahrnehmen. Schließlich dauern die Kämpfe im Sudan bereits seit zwei Jahrzehnten an.
Was im Sudan aktuell politisch geschieht: Zwei Männer reiben sich die Köpfe. Beide übernahmen die Führung des Landes durch zwei gemeinsame Militärcoups 2019 und 2021 – die Macht wollten sie nicht abgeben. Nun reißen sie das Land in einen blutigen Machtkampf, an den Rand eines "umfassenden Bürgerkriegs", wie es UN-Generalsekretär António Guterres beschreibt.
Dennoch: Der Sudan schafft es kaum in die Schlagzeilen. Obwohl es laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zu massiven Menschenrechtsverletzungen kommt: Zerstörung, Plünderung, Vertreibung, Massenexekutionen von Männern.
Und sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Frauen im Verborgenen, über die kaum gesprochen wird.
Wille hat mit mehreren Überlebenden von sexueller Gewalt oder Zeuginnen von Vergewaltigungsfällen gesprochen. Sie seien im Alter von 7 bis 50 Jahren gewesen. Die Geschichten veröffentlichte sie in ihrem Bericht "Sudan: Kämpfer vergewaltigen Frauen und Mädchen und halten Sexsklaven".
Ihr Fazit: RSF-Kämpfer und verbündete Milizen haben seit September 2023 im sudanesischen Bundesstaat Süd-Kurdufan zahlreiche Frauen und Mädchen vergewaltigt, auch im Rahmen "sexueller Sklaverei".
"Gerade in den von RSF kontrollierten Gebieten ist das Risiko hoch für Frauen, sexualisierte Gewalt zu erfahren; vor allem unter den ethnischen Minderheiten", sagt Wille. Die Frauen, mit denen sie sprach, seien schwer traumatisiert und erhalten wenig medizinische Hilfe.
"Dabei haben einige Verletzungen durch den Missbrauch, ganz zu schweigen von der mentalen Last; dann verhungern ihnen die Kinder, weil es kaum etwas zu essen gibt", sagt die Expertin.
In diesem ständigen Überlebenskampf bleibe kaum Zeit, die Dinge zu verarbeiten. "Hinzu kommt, dass die grausame Erfahrung, als Überlebende sexueller Gewalt durch die RSF-Kämpfer in der Öffentlichkeit zu sprechen, tabuisiert wird. Einige Frauen müssen befürchten, was ihre Familien mit ihnen machen würden, wenn sie aufgrund der Vergewaltigung schwanger würden", meint Wille.
In der Region, wo sich Wille mit den Frauen unterhalten hat, sei Abtreibung keine Option. Sie kenne ein Opfer, das sich vor ihrem Cousin verstecken musste, da er ihr mit dem Tod drohte. Denn: Sie ist als Sexsklavin schwanger geworden. Sie war eine der Frauen, die von den RSF-Kämpfern entführt und monatelang in einem ihrer Militärstützpunkte festgehalten wurde.
Im Dezember 2023 griffen RSF-Truppen Habila und andere Städte und Dörfer in Süd-Kordofan an. Wille zitiert dazu ein Opfer in ihrem Bericht:
Drei Monate lang widerfuhr ihr täglich sexuelle Gewalt durch zahlreiche RSF-Kämpfer, bis ihr eines Tages die Flucht gelang. Doch sie leidet bis heute und vertraute Wille an: "Es bringt mich zum Weinen, wenn ich daran denke. Ich bin geistesabwesend. Mein Kopf ist nicht in Ordnung. Ich kann nicht normal funktionieren."
Ein anderes Opfer sagte zu Wille: "Ich habe viele Gedanken, wenn ich schlafe. Ich erinnere mich an alle meine Familienmitglieder." Die Sudanesin wünscht sich, dass ihr Vater noch bei ihr wäre, damit sie sich wieder sicher und geliebt fühlen könne. "Jetzt sind sie weg, und mein Herz ist voller Traurigkeit."
Für Wille ist klar: Die Vereinten Nationen (UN) und Afrikanische Union (AU) müssen eine neue Friedensmission im Sudan starten, um das Leid der Zivilbevölkerung einzudämmen. "Sie sollten dringend handeln, um Überlebenden zu helfen, andere Frauen und Mädchen zu schützen und Gerechtigkeit für diese abscheulichen Verbrechen zu gewährleisten", fordert sie. Doch die UN sei in dem Gebiet, das sie besuchte, kaum präsent.
Wille erinnert daran: Sexuelle Gewalt in Konflikten ist ein schwerer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht oder das Kriegsrecht und ein Kriegsverbrechen. Offenbar muss das Leiden im Sudan erst wieder in den Fokus der Weltgemeinschaft rücken, damit die Frauen im Land so etwas wie Hoffnung fühlen dürfen – wenn das noch möglich ist.