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Gaza: Amnesty spricht von Genozid – Ärzte ohne Grenzen schlägt Alarm

Mohammed Abu Hilal, 2, clings to his mother, Yasmine, inside their tent at the Muwasi camp for displaced Palestinians in Khan Younis, southern Gaza Strip, Sunday, May 18, 2025. (AP Photo/Abdel Kareem  ...
Kinder: Eigentlich sind sie zu jung für Krieg, doch entziehen können sie sich dem Grauen nicht.Bild: AP / Abdel Kareem Hana
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Blockade, Bomben, Hunger: Die systematische Zerstörung von Gaza

Eine Mutter in Gaza beschreibt, was es bedeutet, im Krieg Mutter zu sein. Hunger, Angst, Tod – und kein Ort, an dem Kinder sicher wären. Während die Welt diskutiert, kämpfen Millionen ums bloße Überleben.
22.05.2025, 19:2722.05.2025, 21:37
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Die aktuelle humanitäre Lage in Gaza ist eine Katastrophe. Diese Bezeichnung ist keine Übertreibung, keine Zuspitzung, sondern die alltägliche Realität derjenigen, die den Krieg in der Enklave bisher überlebt haben. Während über geopolitische Machtspiele berichtet wird, sind sie es, die die Konsequenzen am eigenen Leib tragen.

"Alles hier ist ein Kampf", erzählt eine Mutter aus Beit Lahia im Norden Gazas. Ihr Leben ist seit dem neuerlichen Ausbruch des Kriegs nicht mehr das gleiche, wie sie Amnesty International berichtet. Hier Mutter zu sein, bedeute, "jede Minute, jede Sekunde zu kämpfen."

Gaza: Hilfslieferungen sind "nicht mal ein Tropfen auf dem heißen Stein"

Hilfsorganisationen sprechen gegenüber watson von einer beispiellosen Katastrophe. "Wir erleben derzeit in Gaza eine besonders grausame und tödliche Phase", so die drastischen Worte von Amnesty International Deutschland zu watson. "Menschen hungern, Kinder und Babys sterben an Unterernährung. Krankenhäuser werden bewusst zerstört."

20.06.2024, Palästinensische Gebiete, Nuseirat: Palästinensische Kinder sortieren Müll auf einer Mülldeponie im Flüchtlingslager Nuseirat. Israels Krieg in Gaza hat das Abwassersystem des Streifens de ...
Palästinensische Kinder sortieren Müll auf einer Mülldeponie im Flüchtlingslager Nuseirat.Bild: AP / Abdel Kareem Hana

Über 52.000 Palästinenser:innen sollen laut Amnesty International bereits getötet worden sein, mehr als 15.000 davon Kinder. Der Krieg trifft die Zivilbevölkerung mit voller Wucht – und er kennt keine Pause.

Israel habe in Missachtung des Völkerrechts über Wochen hinweg Hilfslieferungen blockiert. Erst seit wenigen Tagen ist wieder begrenzt Hilfe erlaubt – viel zu wenig, um die Lage zu entspannen. "Nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein", heißt es von Amnesty.

Mehr als 70 Prozent des Gazastreifens gelten inzwischen als sogenannte "No-Go-Zonen". Allein seit Mitte März wurden über 436.000 Menschen erneut vertrieben. Viele sind in Zelten untergekommen, die von israelischen Luftangriffen getroffen wurden. Amnesty dokumentiert regelmäßig Bombardierungen sogenannter "sicherer Zonen".

Ärzte ohne Grenzen berichtet von untragbaren Zuständen in Gaza

Ärzte ohne Grenzen berichtet watson, dass allein vergangene Woche mindestens 20 medizinische Einrichtungen getroffen wurden. Viele Krankenhäuser sind zerstört oder nur eingeschränkt nutzbar. Treibstoff für Entsalzungsanlagen fehlt, ebenso wie sterile Verbände oder Handschuhe. Die Teams behandeln Verletzte, entlassen sie – nur, um sie später mit neuen Wunden zurückzubekommen. Die medizinische Lage sei "verzweifelt".

Vor kurzem wurde zudem das letzte Krankenhaus zerstört, das auf die Behandlung von Krebspatient:innen spezialisiert war – ein weiterer schwerer Schlag für die Gesundheitsversorgung der besonders Schutzbedürftigen, wie Amnesty gegenüber watson betont.

Im Al-Rantissi-Kinderkrankenhaus fehlt es ebenso an allem. Dialysegeräte, Insulin, Baby-Milch. "Die Kinder sind ausgemergelt, blass. Wir sagen den Eltern, was sie füttern sollen, aber wissen selbst, dass es unmöglich ist", habe ein Arzt berichtet.

Kinder in Gaza: Kindheit im Überlebensmodus

Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Gemeinschaftsküchen. Viele bekommen nur eine Mahlzeit pro Tag. "Wir fragen nicht mehr, ob das Essen frisch oder gesund ist. Wir wollen nur den Magen der Kinder füllen", sagt ein Vater. "Ich will nicht, dass mein Kind an Hunger stirbt."

Laut OCHA erhalten auch 92 Prozent der Säuglinge und stillenden Mütter nicht die nötige Nährstoffversorgung.

21.05.2025, Palästinensische Gebiete, Gaza-Stadt: Vertriebene Palästinenser stellen sich in einem Zeltlager in Gaza-Stadt auf, um gespendete Mahlzeiten aus einer Gemeinschaftsküche zu erhalten. Foto:  ...
Vertriebene stehen in Gaza-Stadt für gespendete Mahlzeiten an.Bild: AP / Jehad Alshrafi

Die Wasserknappheit in Gaza ist lebensbedrohlich. In Beit Lahia hatten Bewohner:innen fünf Tage lang kein Wasser. Eine Frau berichtete etwa laut Amnesty: "Ich schickte meinen Sohn, um Wasser zu holen. Stundenlang war er unterwegs. Ich wusste nicht, ob er zurückkommt. Jeden Tag kämpfen wir gegen den Tod."

Die Blockade Israels hat auch wirtschaftliche Folgen: Lebensmittelpreise explodieren, Bargeld ist kaum verfügbar, und der Schwarzmarkt blüht. Laut Amnesty werden zudem Hilfslieferungen teilweise durch bewaffnete Gruppen oder Händler gehortet und zu Wucherpreisen verkauft – ein Zustand, der die Not zusätzlich verschärft.

"Meine Kinder leben noch. Das ist mein größtes Glück", sagt die Mutter aus Beit Lahia. Sie fühlt sich schuldig, dass ihre Kinder keine Kindheit erleben dürfen. "Keine Schule, keine Spaziergänge am Meer. Nur Krieg."

Am Muttertag hätte ihr Sohn ihr gerne ein Geschenk gemacht. Er habe sich dafür entschuldigt. "Ich sagte ihm: Euer Überleben ist mein Geschenk."

Amnesty prangert Menschenrechtsverstöße von Hamas und Israel an

Neben dem Krieg dokumentierte Amnesty International auch Menschenrechtsverstöße durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen. Bei den Angriffen vom 7. Oktober 2023 auf sind bekannterweise massenhaft Zivilist:innen in Israel getötet und als Geiseln genommen worden.

Alle Geiseln müssten umgehend und bedingungslos freigelassen werden. Die wahllosen Raketenangriffe auf Israel stellten ebenfalls eindeutige Kriegsverbrechen dar. Auch diese Taten verletzen elementare Regeln des Völkerrechts.

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Israel, Kibbuz Reim: Menschen stehen still, um zwei Schweigeminuten einzuhalten.Bild: AP / Ohad Zwigenberg

Inzwischen protestieren auch immer mehr Palästinenser:innen in Gaza gegen die Hamas. In Beit Lahia gingen laut Amnesty Hunderte auf die Straße – aus Frust über das Verhalten der lokalen Behörden, die es versäumt hätten, gegen Ausbeutung und Wucherpreise während der Krise vorzugehen.

Forderung nach Waffenstillstand und Gerechtigkeit

Unterdessen verschärft sich die Lage weiter: Am 21. Mai intensivierte Israel seine Offensive, bei der mindestens 82 Menschen, darunter Frauen und ein einwöchiges Baby, getötet wurden.

Israels Premierminister Netanjahu kündigte zugleich die Errichtung einer "sterilen Zone" im Süden Gazas an, die unter Kontrolle privater Sicherheitsfirmen stehen soll. Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen lehnen den Plan ab – er unterlaufe bestehende humanitäre Strukturen und werde dem Ausmaß der Not nicht gerecht.

Trotz der offiziellen Aufhebung der Blockade am 19. Mai konnten laut UN bisher nur 90 von 198 Hilfstransportern verteilt werden – viele stecken weiterhin fest. Ärzte ohne Grenzen sagte hierzu: "Die Instrumentalisierung von humanitärer Hilfe kann keine Antwort auf die humanitäre Krise sein, die durch die Blockade der israelischen Regierung selbst geschaffen wurde."

Die Organisation fordert ein Ende der Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, einen sofortigen Waffenstillstand und Zugang zu Hilfsgütern.

Amnesty kommt in einer umfassenden Analyse zu dem Schluss: Israel begeht einen Genozid im Gazastreifen. Damit greift die Organisation auf den juristisch schärfsten Begriff des Völkerrechts zurück – die absichtliche Vernichtung einer Gruppe. Amnesty steht mit dieser Bewertung nicht allein: Auch unabhängige Menschenrechtsorganisationen, UN-Sonderberichterstatter:innen sowie Genozidforscher wie William Schabas und Craig Mokhiber bezeichnen das israelische Vorgehen in Gaza als genozidal – oder sehen darin Anzeichen eines Völkermords.

Ein rechtsverbindliches Urteil dazu liegt bislang jedoch nicht vor. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag prüft derzeit eine entsprechende Klage Südafrikas gegen Israel.

Die internationale Gemeinschaft dürfe nicht weiter zusehen, heißt es von Amnesty. Sie müsse Druck auf Israel ausüben, die Blockade beenden und dafür sorgen, dass humanitäre Hilfe ungehindert alle Menschen in Gaza erreicht. Alle Staaten seien durch die Völkermordkonvention verpflichtet, Genozid zu verhindern. Auch die Bundesregierung.

Bundeskanzler Friedrich Merz äußerte sich am Donnerstag, wenn auch verhalten. Er hat die israelische Regierung dazu aufgerufen, dass humanitäre Hilfsgüter ohne Verzögerung die notleidende Bevölkerung im Gazastreifen erreichen.

Am 20. Mai 2025 hatte die Europäische Union beschlossen, eine Überprüfung von Artikel 2 des Assoziierungsabkommens mit Israel einzuleiten – ein diplomatisch äußerst bedeutender Schritt. Der Artikel verpflichtet beide Seiten zur Einhaltung der Menschenrechte. Eine klare Mehrheit der Mitgliedstaaten sprach sich laut Euractiv für die Einleitung des Prüfverfahrens aus.

Ricarda Lang warnt eigene Partei wegen AfD vor "Denkfaulheit" und "Mutlosigkeit"
Der richtige Umgang mit der AfD ist seit Jahren in der Debatte. Auch die Einordnung der AfD als "gesichert rechtsextrem" durch den Verfassungsschutz hat erneut bewiesen, dass eine Verharmlosung und Normalisierung der Partei nicht angebracht ist. Panik ist laut der Ex-Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang aber ebenfalls keine Option.

Das Migrations-Gebrülle der Union und der Medien, die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel oder doch einfach die Ampel? Die Suche nach den Gründen für den AfD-Erfolg sind vielfältig – die Erklärungen, wie die rechtsextreme Partei wieder kleinzubekommen ist, daher ebenfalls.

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