Hände halten sich mit schlaffem Griff an spärlich gefüllten Bechern fest. Müde Augen suchen Blicke. Auf ein nettes Bitten folgt Schweigen und Ignorieren, einige Sekunden später klirren im besten Fall dann doch ein paar fallende Münzen. Und wenn nicht, dann ist die Verzweiflung aus wütendem Meckern herauszuhören. Wer regelmäßig mit dem ÖPNV durch eine deutsche Großstadt fährt, kennt dieses traurige Schauspiel nur zu gut.
Wenn er manchmal aus der Bahn gehe, heule er, erzählte ein Obdachloser der "Zeit" Ende letzten Jahres. Der Grund: Die Leute schauen ihn nicht an. Diese Situationen seien das Schlimmste.
Berichte über traurige Schicksale von Obdach- und Wohnungslosen in Deutschland sind zahlreich. Im aktuellen Wohnungslosenbericht werden 531.600 wohnungslose Menschen gezählt – ein Großteil von ihnen soll "im System der Wohnungsnotfallhilfe untergebracht" sein. Dennoch leben demnach 47.300 Personen "auf der Straße oder in Behelfsunterkünften", gelten somit als obdachlos.
Besonders im Winter ist das ein dramatisches Problem: Wer auf der Straße wohnt, ist durch die niedrigen Temperaturen mitunter in Lebensgefahr. Sommerliche Hitzewellen bergen ebenfalls Gesundheitsgefahren – von der Gewalt durch Mitmenschen ganz zu schweigen.
Vor diesem Hintergrund hat die Ampelkoalition 2024 einen nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit beschlossen – und den will die neue schwarz-rote Regierung nun weiter umsetzen, wie es im Koalitionsvertrag heißt.
Doch der Plan steht seit Beschluss in der Kritik. Stefan Schneider, der Geschäftsführer der Wohnungslosenstiftung, hält den Aktionsplan für "Augenwischerei", wie er gegenüber watson erklärt. Der Sozialwissenschaftler kritisiert, dass die damalige Ampelregierung in dem Papier zum Teil lediglich bereits feststehende Vorhaben der Länder auflistete.
Zwar formuliert der Plan das Vorhaben, Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden. Wie ein Sprecher des Bauministeriums watson mitteilt, bekennt sich die Koalition aus Union und SPD auch explizit zu diesem Jahresziel.
Schneider hält die dort im Plan festgehaltenen Maßnahmen jedoch für "unzureichend, um Obdachlosigkeit in einer signifikanten Größenordnung zu verringern". Und das, obwohl in dem Plan ein entscheidendes Konzept auftaucht: Housing First.
Das "Housing First"-Konzept sehen mittlerweile viele Entscheider:innen in Deutschland als zentralen Hebel für den Kampf gegen Obdachlosigkeit, weshalb Modellprojekte dazu immer mehr gefördert werden. Die Idee: Der erste Schritt, damit Wohnungslose ihr Leben wieder in geregelte Bahnen lenken können, ist eine eigene Wohnung.
Bisher müssen Obdachlose in Deutschland erst ihre Wohnfähigkeit nachweisen – oder sie nehmen an einem Hilfsprogramm teil. Diese Hürden mögen für manche zwar nachvollziehbar klingen.
Doch Schneider, der die Wohnungslosenstiftung – einen Interessenverband und Netzwerk von (ehemals) Obdachlosen und Unterstützer:innen – 2021 gegründet hat, erklärt:
Zudem biete eine eigene Wohnung laut Schneider einen guten Schutz vor Gewalt, mit denen obdachlose Menschen häufig auf der Straße, "aber auch innerhalb von zwangsgemeinschaftlichen Notunterkünften" konfrontiert seien.
Der Erfolg spricht für sich: Laut der Berliner Sozialverwaltung bleiben etwa in Deutschlands Hauptstadt 90 Prozent der in den vergangenen fünf Jahren vermittelten ehemaligen Obdachlosen langfristig in ihren vier Wänden.
Dennoch gilt auch Housing First nicht als Allheilmittel, Schneider bezeichnet es sogar als im Aktionsplan präsentierte "Scheinlösung". Die Anzahl an derzeitigen und dazukommenden Obdachlosen könne bei Weitem nicht von den durch Housing-First-Projekte vermittelten Wohnungen gedeckt werden.
Außerdem gibt es laut Schneider effizientere und günstigere Lösungen als Housing-First-Projekte, um die zehntausenden Obdachlosen von der Straße in Wohnungen zu bekommen.
Dabei weist er auf den riesigen Leerstand in Deutschland hin: Fast zwei Millionen Wohnungen sind ungenutzt. In diesen könne man Obdachlose unterbringen – oder etwa in Hotels, wie es während der Corona-Pandemie bereits der Fall war.
Neben kurzfristigen Schritten braucht es aber auch langfristige Lösungen. Das weiß wohl auch die schwarz-rote Regierung und formulierte daher – als einzige konkrete Maßnahme gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit – im Koalitionspapier: Wer seine Miete nicht rechtzeitig zahlen kann und das erst später nachholt – in Form einer sogenannten "Schonfristzahlung" – soll eine ordentliche Kündigung vom Vermieter einmalig abwenden können.
So soll dabei geholfen werden, "Obdachlosigkeit zu verhindern", wie es im Koalitionsvertrag heißt. Klingt natürlich sinnvoll, doch Expert:innen wie Schneider fordern schon länger, niemand solle, wenn Obdachlosigkeit droht, jemals aus seiner Wohnung geworfen werden können.
Außerdem reiche allein diese Maßnahme bei Weitem nicht, um Obdachlosigkeit vorzubeugen, wie Schneider erklärt. Stattdessen brauche es ein großangelegtes "Strukturprogramm", um das Problem in den Griff zu bekommen.
Unter anderem müsse die Profitorientierung des Immobilienmarktes eingedämmt werden. Diese heize den Mietmarkt an, preisgünstiger Wohnraum werde immer weniger und nicht nur die bereits Wohnungslosen würden unter Druck stehen, sondern auch Arme und Armutsgefährdete. Es gehe die "Angst herum, die Obdachlosen von morgen" zu werden, warnt Schneider.
Zudem mangelt es in Deutschland dramatisch an Sozialwohnungen. Trotz großer Ankündigungen von Ampel-Bauministerin Klara Geywitz ging die Anzahl an Sozialwohnungen in Deutschland zuletzt sogar zurück statt voran.
Derzeit müssten laut dem Verbändebündnis "Soziales Wohnen" bundesweit knapp 210.000 Sozialwohnungen jährlich bis 2030 geschaffen werden. "Doch selbst dann wäre nur die gröbste Not gelindert", erklärte im Februar Matthias Günther, Chef-Ökonom des Pestel-Instituts.
Ein Blick ins Ausland lohnt sich: In Finnland etwa sieht das ganz anders aus. Dort, erklärt Schneider, wird Housing First in den vergangenen Jahrzehnten mit dem starken Ausbau von Sozialwohnungen kombiniert. So könne innerhalb weniger Tage jedem Menschen, "der in die Obdachlosigkeit gedrängt wird", eine Wohnung angeboten werden.
Immerhin: Ein Sprecher des Bauministeriums betonte gegenüber watson, dass der Koalitionsvertrag "eine weitere Ausweitung der Mittel für den Sozialen Wohnungsbau" vorsehe. Innerhalb von 100-Tagen möchte die neue Bauministerin Verena Hubertz (SPD) zudem einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Wohnungsbau-Turbos vorlegen. Sie kündigte in ihrer ersten Regierungserklärung zudem das Fortsetzen der Mietpreisbremse an.
In einer von Hubertz mitverfassten Einladung zu einer Veranstaltung über Wohnungslosigkeit hieß es vor einigen Monaten zudem, der nationale Aktionsplan könne "nur der Anfang" beim Kampf gegen Wohnungslosigkeit sein.
Ob die neue Regierung von Bundeskanzler Friedrich Merz aber ein neues Bewusstsein für Wohnungs- und Obdachlosigkeit hat, bleibt vorerst zumindest anzuzweifeln: Sie hat in ihrem Koalitionspapier lediglich zwei Sätze zu dem Thema formuliert.