Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Christine Streichert-Clivot (SPD) und Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP).Bild: dpa / Michael Kappeler
Analyse
10.09.2024, 19:5212.09.2024, 11:12
Deutschland steckt in einer Bildungskrise. Das bescheinigt uns jedes Jahr unter anderem die Pisa-Studie. Vor allem in Deutsch und Mathe werden die Schüler:innen immer schlechter.
Dazu kommen ein massiver Lehrkräftemangel, marode Schulen und oftmals fehlende Integration von Geflüchteten und Kindern mit Migrationsgeschichte.
Die Lösung für einige dieser Probleme sollte der Digitalpakt Schule darstellen. Seit 2019 sicherte er Schulen Gelder für die Digitalisierung zu. Am 16. Mai 2024 ist er ausgelaufen. Vorerst ersatzlos. Seitdem pochen Schülervertreter:innen und Lehrerverbände auf eine Fortsetzung.
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Stattdessen wurde in diesem Jahr das Startchancen-Programm durch Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) auf den Weg gebracht. Einige kritisieren es als "Mogelpackung".
Für Stephan Bayer, Bildungsexperte und Gründer der digitalen Lernplattform Sofatutor, ist das nicht nachvollziehbar. Er sieht es vor allem als spannenden Versuch.
Startchancen-Programm eine "Mogelpackung"?
"Es werden Gelder frei, die zumindest teilweise losgelöst vom Königsteiner Schlüssel eingesetzt werden können, das ist spannend", sagt Bayer im Gespräch mit watson. Denn die Schulen könnten selbst entscheiden, was sie mit dem Geld machen wollen, was am dringendsten ist. "Die Schulen wissen ja jeweils selbst am besten, woran es ihnen fehlt", betont der Bildungsexperte.
Königsteiner Schlüssel
Der Königsteiner Schlüssel ist eine Berechnungsgrundlage dafür, wie hoch der von den Ländern zu tragende Anteil bei gemeinsamen Finanzierungen ist. Dieser richtet sich zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl.
Kritiker:innen finden jedoch, die Überschwänglichkeit vieler ist fehl am Platz. Denn das Startchancen-Programm ist keineswegs für alle Schulen gedacht. Sondern nur für bis zu 4000 von rund 40.000 allgemeinbildenden Schulen – einige der sogenannten Brennpunktschulen. Zudem sei die angepriesene Entscheidungsvollmacht beim Einsetzen der Mittel zwar nett, jedoch hätten Brennpunktschulen weitaus andere Probleme, als zu lernen, wie man Mittel richtig einsetzt – so die Befürchtung.
20 Milliarden Euro sollen im Rahmen des neuen Programms in den kommenden zehn Jahren ausgegeben werden. (Zum Vergleich: Der Digitalpakt Schule 1.0 war fünf Milliarden Euro schwer.) Zu wenig, zu kurz, befürchten kritische Stimmen.
Ein Anfang, sagt Stefan Bayer. Ein längst überfälliger:
"Betroffene von Chancenungleichheit sind oftmals weniger laut, machen seltener auf sich aufmerksam, weil sie meistens ganz andere Probleme haben. So ist das auch bei Brennpunktschulen. Deshalb ist es so wichtig, dass der Bund sie jetzt mit den Mitteln in den Vordergrund stellt und wir auf sie aufmerksam machen."
Startchancen-Programm bringt begrenzte Chancengleichheit
Auch Vera Freundl sieht das so. Sie ist eine der Studienautor:innen des ifo-Instituts, das einmal jährlich das Bildungsbarometer erhebt. Am 10. September wurde es zum elften Mal veröffentlicht.
Nicht nur die Pisa-Studie liefert inzwischen Jahr für Jahr bedenklich schlechte Ergebnisse, auch das Bildungsbarometer ist seit vergangenem Jahr auf Tiefstand-Niveau. Es bildet in einer repräsentativen Meinungsumfrage ab, was die Meinung der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands vom Bildungssystem ist. Schulnote 3,01 gab es dieses Jahr im Bundesschnitt.
Freundl erklärt im Gespräch mit watson mit Blick auf das Startchancen-Programm: "Die Gelder werden nicht per Gießkannenprinzip vergeben, sondern gezielt eingesetzt. Eine gezielte Förderung benachteiligter Schulkinder ist wichtig, um die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland zu erhöhen." Bei erfolgreicher Umsetzung könnte sich auch die Meinung vom deutschen Bildungssystem wieder verbessern.
Zudem, weist Freundl hin, hätte die Geschichte gezeigt, dass sich auch die Ergebnisse der Pisa-Studie verbessert hätten, sobald in der Politik gezielt der Fokus auf Bildung gelegt wurde, wie etwa nach dem ersten Pisa-Schock in den 2000ern.
Mit dem Startchancen-Programm will Bildungsministerin Stark-Watzinger genau das machen. Sie verspricht eine "bildungspolitische Trendwende" – und hat damit 78 Prozent der Befragten des Bildungsbarometers hinter sich. Denn die Mehrheit ist der Meinung, dass der Staat seine Ausgaben für Bildung erhöhen sollte.
Kritik am Startchancen-Programm – trotz fiskaler Verbesserungen
Doch Bildungsexpert:innen kritisieren bereits jetzt, dass es mehr als die 20 Milliarden Euro bräuchte, um Bildungsarmut wirklich zu bekämpfen. Bildungsrechtler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WBZ), Michael Wrase, sagte etwa der Rechercheplattform "Correctiv": Um Bildungsarmut tatsächlich abbauen zu können, seien zwischen "drei und vier Milliarden Euro pro Jahr" notwendig.
Er bezeichnet die Darstellung des Bildungsministeriums als "Augenwischerei". Denn erstmal höre sich das nach wahnsinnig viel Geld an. Doch man müsse bedenken, dass rund 40 Prozent der Mittel in bauliche Investitionen an Schulen laufen und nur 1,5 Prozent in die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation. "Das zahlt nicht unmittelbar auf das Ziel ein, die Kernkompetenzen der Schüler und Schülerinnen zu verbessern."
Eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) für das Kinderhilfswerk Unicef sieht allerdings langfristig positive Effekte – zwischen 56 und 113 Milliarden Euro – für die öffentlichen Haushalte, die den Ausgaben von 20 Milliarden Euro gegenüberstehen würden. Würde durch das Startchancen-Programm eine Viertelmillion Kinder und Jugendliche einen mittleren statt einen niedrigen Bildungsstand erreichen, ergäbe sich ein "fiskalischer Gesamteffekt von 112,6 Milliarden Euro", schreiben die Autor:innen.
Was die Gelder im Startchancen-Programm bewirken könnten
Bildungsexperte Bayer will neben der Säule Modernisierung trotzdem das Augenmerk auf die Gelder für multiprofessionelle Teams und das Chancenbudget legen. Dadurch kann Lehrkräften einiges an Zusatzarbeit abgenommen werden, wie das Organisieren einer Klassenfahrt. "Es könnte eine Art Mini-Reisebüro in der Schule entstehen, mit einer Person, die sich ausschließlich darum kümmert", schlägt Bayer etwa vor.
AGs wie Robotikkurse oder Hacking-Workshops könnten von Externen an Schulen übernommen werden.Bild: iStockphoto / StockRocket
Zudem könnten AGs outgesourced werden. Man könnte diese beispielsweise gegen eine Gebühr an einen ortsansässigen Verein übergeben, der an die Schule kommt und sich einmal die Woche um die entsprechende AG kümmert. Es sei "eine Art Flixbus-Moment für Schulen", die Schule öffne sich für externe Anbieter. Denn längst könnten Schulen nicht mehr alles leisten, was ihnen heute abverlangt wird.
Was würde tatsächlich Chancengleichheit bringen?
Allerdings könne das Startchancen-Programm natürlich nicht jede Chancenungleichheit aus dem Weg räumen, meint Bayer. Bei der Gelegenheit sollte jedoch die Frage gestellt werden, wie stark sich der Staat in die Erziehung einmischen dürfe, wie autonom Familien sein dürften, um Chancengleichheit für alle zu gewährleisten.
Denn früher hätten Eltern die Kinder einfach in der Schule abgegeben, in dem Wissen, es wird sich gekümmert und sie würden bestens aufs Leben vorbereitet. Heute stünden Eltern zunehmend unter Druck, Teil der Lösung zu sein, sagt Bayer.
Heute sei klar: Je mehr sich Eltern engagieren und ihre Kinder unterstützen, desto leichter werden sie es später haben, erfolgreich zu werden. Das schreie danach, dass der Staat sich mehr einmischt. Zum Beispiel in Form von freiwilligen oder verpflichtenden Angeboten, wie einer Kita-Pflicht oder etwa verpflichtenden Deutschtests. Das würde sogar die Mehrheit in Deutschland befürworten. So sind laut Bildungsbarometer 68 Prozent der Befragten für eine Kita-Pflicht ab vier Jahren und 81 Prozent für verpflichtende Sprachtests mit viereinhalb Jahren.
Bayer findet: "In der heutigen Zeit muss das Bildungssystem viel agiler sein. Dafür ist das Startchancen-Programm ein starker Anfang."
(mit Material der dpa)