AfD-Chefin Alice Weidel hat derzeit etwa 764.000 Follower:innen auf Tiktok. Bild: imago images / Hanno Bode
Analyse
Politik ohne Social Media ist heutzutage undenkbar. Und Wahlkampf? Unverzichtbar. Das ist mittlerweile bei allen Parteien angekommen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gewährt in einem Tiktok-Video Einblick in seine Aktentasche. Er geht auf Kommentare von User:innen ein und lässt sich bei Staatsbesuchen und Interviews begleiten.
Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck kehrt nach langer Abwesenheit auf die umstrittene Plattform X zurück. In einem Video am Küchentisch sitzend verkündet er seine Kanzlerkandidatur und bietet im Wahlkampf Küchentisch-Gespräche an.
Auf Tiktok erleben ihn seine User:innen in Indien, am Bürgertelefon und im Gespräch mit einer jungen Dachdeckerin.
Und der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz? Meist sind es Ausschnitte von ihm bei seinen Reden oder gemeinsame Auftritte mit CSU-Chef Markus Söder. Der besitzt immerhin circa 234.000 Tiktok-Follower:innen.
Wenn es um Tiktok-Erfolg geht, fällt aber noch immer häufig der Name der in Teilen rechtsextremen Partei AfD.
Bundestagswahl: AfD erreicht auf Tiktok viele junge Menschen
Laut Medienberichten sei die AfD auf Tiktok äußerst erfolgreich. Mit ihren Inhalten erreiche die Partei vor allem junge Menschen. Eine "Studie zur Sichtbarkeit der Parteien in den Sozialen Medien" im Herbst 2024 zeigt: Die AfD dominierte Tiktok im Vorfeld der ostdeutschen Landtagswahlen.
Expert:innen befürchten, dass die AfD auch bei der Bundestagswahl von ihrem Tiktok-Auftritt profitieren wird, während den demokratischen Parteien die Aufholjagd nicht gelungen ist.
"Die SPD will Tiktok eines Tages dominieren", sagt Sozialdemokrat Tim Vollert dennoch überzeugt. Er sitzt im Social-Media-Wahlkampfteam der SPD und gibt im watson-Gespräch preis, was – nicht nur bei seiner Partei – schiefgelaufen ist.
Suche der SPD nach Influencern sei bisher ein "Chaos"
Laut Vollert konnte die SPD mit ihrer Social-Media-Strategie bisher nicht punkten. "Zunächst hatte das Willy-Brandt-Haus versucht, einflussreiche Influencer für den Wahlkampf zu gewinnen", sagt er. Das Konzept habe allerdings zu "Chaos" geführt.
Tim Vollert ist Mitglied der SPD (Archivbild von 2022). Bild: watson / josephine andreoli
Das Problem sei, dass diese ziellosen Anfragen bei Influencer:innen eher auf Missmut träfen. "Oft werden Accounts angefragt, die kein Interesse an der SPD haben oder sich politisch nicht äußern wollen, um keine Follower zu vergraulen", sagt Vollert.
"Dann warf das Willy-Brandt-Haus mit kleineren Jobs um sich, um eigene Influencer zu züchten", meint der Insider. Das Ziel hier: Sie sollen den Wahlkampf betreiben, den die Mutterpartei auf ihren Hauptaccounts nicht macht.
In den USA sei es längst üblich, dass die Parteien für Influencer:innen werben; in Deutschland (noch) nicht. Daher müsse man sich diese mit Geduld "züchten", meint Vollert. Sprich, auch jene ins Boot holen, die aktuell nur 3000 Follower:innen haben und sie mit Ressourcen unterstützen – unter anderem mit Ausstattung, Geld und Auftritten von Spitzenpolitiker:innen.
Vollert ist selbst auf Tiktok mit seinem Account "3minutenwissen" aktiv. Dort spricht er über das Weltall und Astrophysik. Ihm folgen rund 195.000 User:innen. Aktuell sind das zumindest mehr als Merz (etwa 45.000) und Habeck (etwa 69.000). Scholz hat immerhin rund 431.000 Tiktok-Fans.
"Wir haben es verpasst, eine Langzeitstrategie zu bilden. Geld und Zeit wurden nicht erfolgreich genutzt."
SPD-Politiker Tim Vollert
"Die SPD wird Tiktok eines Tages dominieren", prognostiziert Vollert. Das sei das Ziel. Dazu dürfe man keinen Trends hinterherjagen. "Also irgendwelchen Tanzvideos, sondern den Menschen auf Augenhöhe begegnen – am besten über Livestreams", meint er. Das habe die AfD früh verstanden.
Mehr seriös, weniger skurril: Große Tiktok-Reichweite ist nicht alles
AfD-Chefin Alice Weidel besitzt derzeit rund 764.000 Follower:innen. Der Account ihrer Partei kommt auf 529.500, während die Profile von CDU, Grüne und SPD nicht die 60.000-Marke knacken.
Es gibt also reichlich Luft nach oben. "Wir haben es verpasst, eine Langzeitstrategie zu bilden. Geld und Zeit wurden nicht erfolgreich genutzt", kritisiert Vollert.
Ihm zufolge generieren etwa Livestreams auf Tiktok eine erfolgreiche Reichweite, bei der man Wählende erreicht – auch jene außerhalb der eigenen Bubble. Und darauf komme es schließlich an. Zudem siege Seriös über Skurril.
"Seltsame Inhalte werden oft geteilt, aber das muss nicht automatisch heißen, dass man dadurch neue Wähler gewinnt", sagt Vollert. Auch viral gehende "Shitstorms", ausgelöst durch provokante Inhalte, bringen laut ihm nicht viel.
Oftmals platzierten die Grünen, CDU oder SPD zudem Gesichter in den Vordergrund, die nicht beliebt seien. Sie setzen zu sehr auf Trends, surfen die Hate-Welle durch polarisierende Inhalte oder regen sich dauernd nur über andere auf. "All das bringt zwar Reichweite, aber verfehlt oft das Ziel, Wähler zu gewinnen", sagt Vollert.
Sein Tipp: "Man sollte auf wenige, kompetente Profis setzen, die etwa die Algorithmen verstehen." In den vergangenen Jahren wurden laut ihm vor allem Studierende als Social-Media-Berater:innen angeheuert.
Tiktok: SPD-Politiker warnt vor Georgescu-Phänomen in Rumänien
Am Ende sei es ein Spiel gegen die Zeit, warnt er. "Tiktok-Stars können großen Einfluss nehmen. Noch haben wir keinen Andrew Tate oder einen rumänischen Georgescu in Deutschland", sagt er.
Tiktok entscheidet Wahlen, das zeigt laut Expert:innen der Wahlsieg von Donald Trump in den USA, aber auch der Fall in Rumänien, wo der rechtsextreme und pro-russische Präsidentschaftskandidat Călin Georgescu überraschend gewann.
Der bisher unbekannte Georgescu hatte sich völlig überraschend im ersten Wahlgang durchgesetzt. Das lag vor allem an seiner Präsenz auf Social Media; auf Tiktok besitzt er aktuell 650.000 Follower:innen.
Der Vorwurf: Russland soll den Rechtsradikalen Georgescu mit unlauteren Mitteln gefördert haben. Mithilfe koordinierter Konten, Empfehlungsalgorithmen und bezahlter Werbung wurde sein Account massiv gepusht. Das Verfassungsgericht annullierte daraufhin Ende 2024 die Präsidentschaftswahlen.
Vollert sieht Social Media unter Druck. Mit Trumps Amtsantritt wendet sich das Blatt spürbar. Elon Musk lässt laut Kritiker:innen X ungefiltert mit Desinformationen, Fake-News und KI-Fotos überfluten.
Auch Meta-Besitzer Mark Zuckerberg knickt offenbar vor Trump ein und schafft plötzlich Faktenchecker und Moderation ab. Zu seinem Facebook-Konzern Meta gehören auch die Plattform Instagram, die Chatdienste Whatsapp und Messenger sowie die X-Alternative Threads.
USA: Trump liebt plötzlich Tiktok
Und Tiktok? Eigentlich forderte US-Präsident Trump vehement ein Verbot der chinesischen Plattform. Doch er wandelt sich vom Gegner zum unerwarteten Verfechter. Weil er offenbar erkannte, welche Rolle die Plattform bei seinem Wahlsieg spielte.
Seit November 2023 wurden in der App fast doppelt so viele Pro-Trump-Posts publiziert wie Pro-Biden-Posts, zitiert die New York Times im Mai des vergangenen Jahres, als der US-Wahlkampf in Schwung kam. Heute folgen Trump auf Tiktok rund 15 Millionen Accounts.
In seiner ersten Amtszeit hatte Trump noch eindringlich vor Sicherheitsrisiken und möglicher Datenspionage durch China gewarnt. Bei seiner Amtseinführung am 20. Januar saß Tiktok-CEO Shou Zi Chew in der ersten Reihe neben Musk, Zuckerberg und Amazon-Chef Jeff Bezos.
Die milliardenschweren Tech-Größen nehmen bei der Amtseinführung von Donald Trump teil.Bild: AP Pool / Julia Demaree Nikhinson
Kritiker:innen warnen vor dieser gefährlichen Nähe zwischen den Tech-Größen und Trump. Hinzu kommt die Einflussnahme Russlands.
Russland will Wahlkampf mit Social Media beeinflussen
Laut Recherchen von "Correctiv" hat eine russische Desinformationskampagne vor der Bundestagswahl rund 100 Fake-Nachrichtenseiten eingerichtet.
Russland nutze demnach Desinformation, KI und Deepfakes sowie Fake-Nachrichtenseiten, um den Wahlkampf zu beeinflussen. All das sind Herausforderungen, denen sich demokratische Parteien in Zukunft auf Social Media stellen müssen.
Vollerts Devise lautet: "Nicht auf den Plattformen präsent zu sein, ist keine Option."