Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar veränderte sich für Europa die Weltordnung. Junge Europäer:innen kannten bisher nur den friedlichen Kontinent – nun kämpfen Menschen ums Überleben, direkt vor den Toren der EU.
Expert:innen warnen: Russland habe einen großen Hunger. Sollte die Ukraine fallen, ständen wohl auch andere europäische Länder auf der Liste des Kreml. Der russische Präsident Wladimir Putin gilt als der große Feind der freien, demokratischen Welt.
Doch nicht alle Länder sehen das offenbar so und verurteilen Russlands Invasion. Viele bleiben neutral oder stellen sich auf die Seite des Aggressors.
China, Indien, Kenia oder Peru: Warum sollten Europas Probleme auch Probleme der Welt sein?
Diese Frage beantworten vier Vertreter:innen aus dem sogenannten Globalen Süden bei einer von vielen Podiumsdiskussionen des "Café Kyiv" in Berlin. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) stellte das Event auf die Beine. Auch watson war vor Ort.
"Indien und Russland verbindet eine tiefe Beziehung", sagt Ashutosh Nagda, Bundeskanzler-Stipendiat bei der Alexander von Humboldt-Stiftung. Es sei keine Frage, ob Indien für oder gegen den Krieg sei, sondern was Indien wolle. "Das Land will mit jedem gute Beziehungen führen und setzt seine eigenen Bedürfnisse allem voran."
Spricht man in Indien über nationale Sicherheit, liegt laut Nagda der Fokus auf Pakistan. Alles andere sei kaum ein Thema im öffentlichen Diskurs. "Zudem ist die Meinung der Menschen in Indien in einer Linie mit dem, was die Regierung sagt und denkt." Für den Stipendiaten stelle sich aber die Frage: Wie würde Indien reagieren, sollte China Taiwan angreifen?
Der chinesische Machthaber Xi Jinping beobachtete lange Zeit die russische Invasion als neutraler Akteur. "Aber nun zeigt das Land den Willen, Russland zu unterstützen", meint Shi Ming. Als Journalist lebt und arbeitet er in Deutschland. Auf die Frage, wie die Menschen in seinem Heimatland über den Krieg in Europa denken, meint er: "China will alles kontrollieren, auch die öffentliche Meinung."
Zu Beginn des Angriffskrieges sei es – wie in Russland – nicht erlaubt gewesen, die Worte "Spannungen", "Militäraktion" oder "Krieg" zu nutzen.
Laut Ming kam eine Debatte erst später auf, vor allem als die Invasion Russlands ins Stocken geriet. "Dann sah sich China gezwungen, den Frieden zu 'favorisieren'", führt er aus. Das Land schaltete sich erstmals ein, aber einen "echten Frieden" strebt es nicht an. Denn Ming zufolge profitiert China davon, wenn Russland sich an der Ukraine festbeißt und damit den Westen "ablenkt". Ihm zufolge liegt dem Land nicht viel daran, dass der Krieg bald endet.
"Russland ist der Sturm, China ist der Klimawandel", zitiert Ming die Warnung des deutschen Verfassungsschutzes. Es sei eine erhebliche Bedrohung von einem "zur Globalmacht aufsteigenden autokratischen China" zu befürchten, schreibt der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl.
Neben China halten sich auch Länder in Lateinamerika mit der Verurteilung des russischen Angriffskrieges zurück oder unterstützen Putin. Ganz vorn dabei die sozialistischen "Bruderstaaten" Nicaragua, Kuba und Venezuela.
Angesichts westlicher Sanktionen vereinbarten kürzlich Russland und Venezuela eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. In Brasilien löste die neutrale Haltung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva zur Invasion Russlands kontroverse Diskussionen aus. Immer wieder machte Lula Andeutungen, die Ukraine sei mitverantwortlich für den Krieg. Auch die Nato würde die Gewalt durch Waffenlieferungen befeuern.
In Argentinien kam ein Wandel der Außenpolitik durch den neu gewählten Präsidenten Javier Milei. Er erteilte etwa den sogenannten Brics-Staaten eine Absage. Sprich, Argentinien hätte sich 2024 dem Bündnis aufstrebender Volkswirtschaften wie Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika anschließen können. Doch Milei öffnet sich dem Westen.
"Am Ende sind die Geschehnisse in Europa aber für die Menschen in Lateinamerika weit entfernt", erklärt Ximena Docarmo von der Apolitischen Stiftung. Sie selbst stammt aus Peru und weist darauf hin, dass die kleinen Staaten in Lateinamerika keine großen Player in der Welt seien. Stattdessen befänden sie sich in großer wirtschaftlicher Abhängigkeit von den USA oder Russland.
Auch China hinterlasse einen wachsenden Fußabdruck auf dem Kontinent. "Teils sind die Beziehungen mit China noch größer als mit Russland", führt Docarmo aus. Ein Szenario, das auch auf dem afrikanischen Kontinent zu beobachten ist.
China und Russland buhlen um Einfluss auf dem ressourcenreichen Kontinent. Noch sind es die USA und die drei ehemaligen Kolonialmächte Großbritannien, Frankreich sowie Niederlande, die am meisten Geld in Afrika investieren. Das geht aus dem "UN World Investment Report 2023" hervor.
Doch die Stimmung schlägt um, etwa über Westafrika bricht eine anti-demokratische sowie anti-westliche Welle ein – und die weiß Russland zu surfen.
Auch im ostafrikanischen Kenia zeichne sich eine pro-russische Stimmung ab, sagt Journalist Isaac Otidi Amuke im watson-Gespräch. Er ist Mitbegründer und Chefredakteur von Debunk Media, einer unabhängigen Medienplattform in Nairobi, Kenia.
Laut ihm werde Russland in Afrika "romantisiert", die Ursache dafür besitze tiefe historische Wurzeln. Zum Beispiel habe die damalige Sowjetunion viel mehr Stipendien an Afrikaner:innen vergeben als die USA. "Diese Leute kehrten nach Afrika zurück und bilden heute die intellektuelle Elite", sagt Amuke. Wer eine progressive Politik betreibe und als fortschrittlich gelten möchte, müsse eine pro-russische Haltung einnehmen.
Die Menschen besitzen laut Amuke ein verzerrtes Bild von Russland, es sei ein Land der Revolutionen. Viele glauben etwa, dass Kapitalismus-Kritiker Karl Marx Russe sei. "Aus dem Westen komme hingegen nichts Gutes. Es seien imperialistische Kolonialisten, vor denen jeder knien soll", erklärt er die Auffassung vom Westen etwa in Kenia. Diese "Romantisierung" Russlands gehe so weit, dass viele Menschen glauben, das Land könne keine Fehler begehen, "dazu zählt auch die Invasion der Ukraine", meint der Journalist.
"Dass der Westen die Ukraine unterstützt, befeuert das Narrativ über Russland noch mehr", führt er aus. Ein großes Problem sei auch, dass die Menschen Informationen unkritisch aufsaugen oder sich mit der Geschichte nicht auseinandersetzen. "Man hat andere Sorgen, teils so gravierende, wie Nahrung und Trinkwasser aufzutreiben, daher gibt man sich schnell mit der einfachsten Antwort zufrieden."
Das Übrige erledige die Flut an russischer Desinformation, meint Amuke. Sie schwappe bis in die Newsrooms in Kenia. Laut des Chefredakteurs fehlt in vielen Redaktionen ein Fakten-Check, oft werden Nachrichten einfach aus Social Media übernommen. Laut ihm ist es schwer, gute Reporter:innen zu finden. Auch der Einfluss pro-russischer Influencer:innen auf die öffentliche Meinung wachse.
Damit hatte Russland in Westafrika großen Erfolg. Dort kippt die Stimmung vollends, Frankreich und Deutschland ziehen sich zurück, während sich Russland als angeblich "verlässliche Alternative" anbietet. Laut Sahel-Experte Ulf Laessing, der für die CDU-nahe KAS vor Ort ist, hat Russland mittlerweile ein "Afrika-Korps" gegründet, mit dem es seinen Einfluss hält und weiter ausbaut.
"So wird Russland zu einem lokalen Imperium in seiner besten Form", sagt Kenianer Amuke. Und all das, während es die Ukraine überfällt.