Wladimir Putin bei seiner Rede in Wolgograd.Bild: AP
Analyse
Die Berichte über den Zustand der russischen Wirtschaft sind widersprüchlich.
Philipp Löpfe / watson.ch
Soeben hat sich der Sieg der sowjetischen Truppen über die Wehrmacht in der Schlacht um Stalingrad zum Achtzigsten mal verjährt. Die Stadt, die heute Wolgograd heißt, ist das Symbol für den russischen Widerstand geworden. Der Blutzoll war gewaltig: Rund eine Million Menschen haben den Tod gefunden.
Wladimir Putin hat den Jahrestag dazu missbraucht, einmal mehr seinen Überfall auf die Ukraine zu rechtfertigen. In seiner pathetischen Rede hat der russische Präsident jedoch nicht erwähnt, dass rund achtmal mehr sowjetische Soldaten gefallen sind als Angehörige der Wehrmacht. Dass seine Armee weiterhin an ihrer mörderischen Taktik festhält, wurde ebenfalls unter den Tisch gewischt. Dabei werden die russischen Verluste in der Ukraine – Tote und Verwundete – mittlerweile auf gegen 200’000 geschätzt.
Das Denkmal, das an die Schlacht von Stalingrad erinnert.Bild: Pool Sputnik Kremlin/AP / Konstantin Zavrazhin
Trotzdem geben sich Putin und seine Adlaten nach wie vor siegessicher: "Wir werden dafür sorgen, dass die vom Westen organisierten Veranstaltungen zum Jahrestag der Sonderoperation in der Ukraine nicht die einzige Sache sein wird, die die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht", droht sein Außenminister Sergej Lawrow zweideutig.
Doch verfügt Russland auch über die wirtschaftliche Potenz, diese Drohungen auch wahrzumachen?
Diese Frage hat die "New York Times" kürzlich mit "Ja" beantwortet. Die vom Westen verhängten Sanktionen würden durch Länder wie Armenien, China, Belarus, Kasachstan, Kirgisien und vor allem die Türkei wirkungsvoll unterlaufen, meldet das Blatt und stellt fest: "Die russischen Importe scheinen beinahe wieder auf dem gleichen Stand wie vor der Invasion in die Ukraine zu sein."
Gestützt wird diese Aussage vom Internationalen Währungsfonds. Die IWF-Ökonomen erwarten, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr um 0.3 Prozentpunkte wachsen wird. Im vergangenen Jahr ist sie um 2.3 Prozent geschrumpft.
Der ehemalige stellvertretende Finanzminister Russlands, Sergej Aleksaschenko.Bild: imago stock&people
Sergej Aleksaschenko, der ehemalige stellvertretende Finanzminister Russlands, räumt zwar ein, dass es derzeit Probleme gebe. Gleichzeitig gibt er sich jedoch zuversichtlich. 2023 werde zwar ein "schwieriges Jahr" werden, aber es werde auf keinen Fall zu einer "Katastrophe, einem Kollaps" kommen. Die russische Wirtschaft sei stark genug, um die Folgen des Krieges weiter verkraften zu können, so Aleksaschenko weiter. Es sei nicht so, dass sie "am Boden liege oder gar zerstört sei".
Der Ölpreis spielt eine zentrale Rolle
Erdöl spielt in der Diskussion um den Zustand der russischen Wirtschaft eine zentrale Rolle. Der Westen hat einen Preisdeckel von 60 Dollar pro Fass für russisches Öl verhängt. Dieser Deckel ist deutlich unter dem Preis von rund 80 Dollar, zu dem das schwarze Gold derzeit gehandelt wird. Es ist zudem unklar, ob Russland selbst diese 60 Dollar erhält, denn die beiden wichtigsten Abnehmer, China und Indien, verlangen happige Abschläge. Russland werde mit einem Discount von 38 Prozent gehandelt, meldet daher der "Economist".
Ob diese Zahlen der Wirklichkeit entsprechen, ist umstritten. Die offiziellen chinesischen und indischen Zahlen weisen aus, dass für russisches Öl im laufenden Winter deutlich mehr bezahlt wurde. Zudem ist Russland im Begriff, seine Öltanker-Flotte massiv auszubauen, um so die westlichen Sanktionen zu unterlaufen. An mangelnden Devisen sollte der russische Feldzug daher nicht scheitern.
Zu einer diametral entgegengesetzten Einschätzung des Zustands der russischen Wirtschaft kommt Wladimir Milow im Magazin "Foreign Affairs". Der ehemalige stellvertretende Energieminister Russlands stellt klipp und klar fest: "Die Sanktionen gegen Russland wirken."
Milow ist überzeugt, dass Putin & Co. mit gefälschten Daten ein viel zu rosiges Bild malen. Beispielsweise bei der Arbeitslosenquote. Offiziell wird diese mit 3.7 Prozent ausgewiesen. "Das ist Rekord", so Milow. "In Wirklichkeit waren im dritten Quartal 2022 jedoch rund fünf Millionen Russen auf versteckte Art arbeitslos. Schlimmer noch, 70 Prozent von ihnen erhielten keine Arbeitslosenunterstützung." Gemäß Milow sind derzeit rund 10 Prozent der russischen Arbeitnehmer ohne Job. Die Situation sei beinahe so schlimm wie in den Neunzigerjahren.
Droht einmal mehr: Außenminister Sergej Lawrow.Bild: AP / Alexander Zemlianichenko
Auch Andrei Kolesnikow betont ebenfalls in "Foreign Affairs" die massive Abhängigkeit der Russen vom Staat. "Gemäß offiziellen Statistiken ist der Anteil der sozialen Zuwendungen beim Einkommen der Menschen heute größer als in der Sowjetunion", hält er fest. Für Kolesnikow ist dies ein wichtiger Grund, weshalb es bisher kaum Opposition gegen Putins Krieg gibt.
Immer wieder wird der starke Rubel als Beweis für die intakte russische Wirtschaft ins Feld geführt. Auch das sei irreführend, hält Milow fest. "Der sogenannt starke Rubel ist das Resultat von drakonischen Währungskontrollen und einem Absturz bei den Importen."
Ebenso liege die Inflationsrate deutlich über den offiziell ausgewiesenen 12 Prozent – an sich schon ein hoher Wert –, nämlich bei 16 Prozent. "Diese Kluft ist verständlich, denn der Lebensstandard der Russen verschlechtert sich dramatisch", so Milow, und verweist auf eine Meinungsumfrage vom vergangenen Oktober. Darin geben 68 Prozent der Befragten an, das Angebot an Gütern sei in den letzten drei Monaten massiv zurückgegangen. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt. Die Konsumenten gehen leer aus.
Auch die Umgehungs-Importe würden Russland langfristig nicht aus der Patsche helfen, so Milow. China und Indien seien zwar daran interessiert, billiges russisches Öl zu kaufen. Sie hätten jedoch keinerlei Interesse daran, Russland zu helfen, aus eigener Kraft bessere und innovativere Produkte zu entwickeln.
Die Unkenrufe, wonach die Sanktionen gegen Russland sinnlos seien, hält Milow daher für verfehlt. "Hält man die Sanktionen lange genug aufrecht, könnten sie die Russen von ihrem aggressiven Verhalten abhalten. Die zuständigen Stellen im Westen müssen daher eine detaillierte Analyse durchführen, wie die Sanktionen wirken, und sich nicht auf ein paar Indikatoren stützen, zumal diese leicht zu manipulieren sind. Und vor allem müssen sie geduldig bleiben."