Vor einem Jahr wurde Edith Kwoizalla berühmt, zumindest für ein paar Tage. Die damals 101-jährige Frau wurde am 26. Dezember 2020 als erster Mensch in Deutschland mit einem zugelassenen Stoff gegen das Coronavirus geimpft, Medien aus von Peking bis Paderborn zeigten das Bild der Injektion.
Mit Edith Kwoizalla begann am zweiten Weihnachtstag des ersten Corona-Jahres die Impfkampagne gegen die Pandemie. Jeder geimpfte Mensch, das war Ende des vergangenen Jahres die Botschaft aus dem größten Teil der Politik, würde uns einen kleinen Schritt weiter aus der Corona-Krise bringen.
Was ist heute, ein Jahr, nach dem Beginn der Impfkampagne, von diesem Versprechen geblieben?
Eine gewisse Normalität könnte dann erreicht werden, wenn aus der Pandemie eine Endemie wird, meint der Berliner Epidemiologe Timo Ulrichs im Gespräch mit watson – wenn es also gelingt, das Auftreten der Krankheit zeitlich und örtlich dauerhaft einzugrenzen.
Auf den ersten Blick scheint es so, als sei das Versprechen gebrochen worden. 70,8 Prozent der Menschen in Deutschland haben inzwischen eine vollständige Impfung erhalten, 36 Prozent haben den Schutz gegen eine Covid-19-Erkrankung mit einem Booster aufgefrischt. Und trotzdem lebt Deutschland weiter im Schatten der Pandemie.
Über 4.000 Menschen liegen laut DIVI-Intensivregister hierzulande gerade mit Covid-19 auf der Intensivstation, in den Tagen vor Weihnachten 2021 sind hunderte täglich an der Krankheit gestorben. Die Omikron-Variante des Coronavirus breitet sich rasant aus, Expertinnen und Experten befürchten für Januar 2022 erneut rasant steigende Ansteckungszahlen.
Was die Impfung bewirkt hat, zeigt sich aber schon auf den zweiten Blick: Die Zahl der festgestellten Infektionen ist so hoch wie nie in der Pandemie, die Zahl der Todesfälle ist aber deutlich zurückgegangen. Um Weihnachten 2020 herum starben bis zu 1000 Menschen pro Tag an Covid-19. Ein Jahr später sind es am 22. Dezember 474 Tote, bei einem Sieben-Tages-Schnitt unter 400.
Dass heute so viele Ansteckungen bekannt werden, hat auch damit zu tun, dass es viel einfacher als vor einem Jahr ist, sich auf das Virus testen zu lassen: Teststationen gibt es heute, anders als Ende 2020, flächendeckend, jede und jeder kann gratis überprüfen lassen, ob sie oder er infiziert ist.
Und dass die Todeszahlen gesunken sind, hängt ganz erheblich mit den Impfstoffen zusammen: Ihr Schutz vor einer schweren Covid-Erkrankung ist sehr hoch. Dass trotzdem viele geimpfte Menschen mit milden Symptomen erkranken, schmälert diese Wirkung nicht.
Das wichtigste Ziel der Impfkampagne war immer, Menschen vor schweren Verläufen und damit vor Todesgefahr zu schützen – und zu verhindern, dass die Krankenhäuser überlastet werden.
Diesen Schutz hat die Impfung in den vergangenen zwölf Monaten Millionen Menschen in Deutschland geboten. Und das, obwohl sich das Coronavirus mit den Varianten Alpha, Delta und Omikron weiterentwickelt hat – und dadurch heute das Risiko, damit in Kontakt zu kommen, erheblich höher ist als noch vor einem Jahr.
Klar scheint auch: Wäre in Deutschland ein größerer Anteil der Bevölkerung vollständig geimpft, dann wäre vielen Kliniken in den vergangenen Wochen in Bayern und Teilen Ostdeutschlands die massive Belastung mit Covid-Patienten wohl erspart geblieben. Die Intensivstationen der Krankenhäuser waren dort besonders voll mit Erkrankten, wo die Impfquoten besonders niedrig waren.
Klar erscheint aber auch: Viele Regierende in Bund und Ländern haben den Menschen im Dezember 2020 voreilig zu viel versprochen. Zweimal geimpft und der Spuk ist vorbei: So einfach ist der Weg aus der Pandemie nicht. Das Coronavirus SARS-CoV-2 ist mutiert, es ist seit 2020 erheblich ansteckender geworden. Die Möglichkeit, sich freiwillig und kostenlos impfen zu lassen, hat ein gutes Viertel der Menschen in Deutschland noch immer nicht genutzt. Schutzmasken, Abstandsregeln, geschlossene Lokale und abgesagte Konzerte gehören weiter zum Alltag in diesem Land.
Doch mit etwas Glück ist das in ein paar Monaten vorbei. Das erklärt zumindest Timo Ulrichs, Epidemiologe an der Akkon-Hochschule in Berlin, gegenüber watson. Er hält es immerhin für gut möglich, dass die Lage bald von der Pandemie in die Endemie übergeht: in einen Zustand also, in dem Covid-19 nicht mehr in Wellen mit schnell ansteigenden Ansteckungszahlen verläuft, sondern das Coronavirus auf eine Bevölkerung stößt, die in weiten Teilen durch Antikörper gewappnet ist.
Ulrichs meint wörtlich:
Die Entwicklung in Südafrika – wo die Omikron-Variante des Virus zuerst festgestellt wurde und wo die Ansteckungszahlen wieder sinken und es außerdem zu weniger schweren Verläufen als bei vorherigen Varianten gekommen ist – stimmt Ulrichs zusätzlich optimistisch.
Er erklärt:
Wenn die Endemie erreicht ist, so Ulrichs, könnte in Deutschland endlich die Art von Normalität erreicht werden, die sich viele schon ab Ende Dezember 2020 erhofft hatten. "Nach vollständiger Durchseuchung und Durchimpfung, also bei guter Grundimmunisierung der Bevölkerung, können die Maßnahmen sukzessive aufgehoben werden", meint Ulrichs. Der Virologe schränkt seine hoffnungsvolle Aussicht aber ein: "Es sei denn, es entwickelt sich irgendwo eine aggressivere, ganz anders aussehende (Pi-)Variante."
Und bei aller Zuversicht mit Blick auf die kommenden Monate warnt Ulrichs davor, die kommenden Wochen zu unterschätzen. Er spricht sich dafür aus, aktuell alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, die das Coronavirus daran hindern, sich zu verbreiten. Ulrichs wörtlich:
Und Edith Kwoizalla? Die erste Geimpfte Deutschlands ist inzwischen 102 Jahre alt, doppelt geimpft und will sich laut "Bild" bei nächster Gelegenheit boostern lassen. Ihre Familie, heißt es in der "Süddeutschen Zeitung" nennt sie "Impf-Queen".