Alle starren darauf, wie das Kaninchen auf die Schlange, keiner weiß, was uns erwartet: Donald Trumps "liberation day" hält Manager, Ökonomen und Investoren gleichermaßen in Atem. Die Rede ist von "reziproken Zöllen", will heißen, die USA wollen jedem Land die gleichen Zölle aufbürden, unter denen die eigenen Exporte zu leiden haben. Oder auch nicht: Vielleicht werden auch allen Ländern pauschal 20 Prozent Zölle aufgebrummt.
Die Rede ist auch von den "dreckigen 15", den Ländern, die den größten Handelsüberschuss mit den USA aufweisen und die daher mit den schlimmsten Massen rechnen müssen. All dies zusätzlich zu den Zöllen, die Trump bereits beschlossen, auf Eis gelegt hat und jetzt möglicherweise wieder reaktivieren will. Viel Glück an alle, die hier noch den Durchblick haben.
Zyniker sagen daher, hinter diesem "Befreiungstag" stecke nichts anderes als der Versuch, so viel Chaos wie möglich zu stiften, schließlich sei Trump ein bekennender Anhänger der "madman theory", wonach man die Welt mit unberechenbarem Handeln in Atem halten wolle, um dann im richtigen Moment zuzuschlagen.
Diese These ist falsch. Es gibt einen Plan hinter diesem Chaos. Ob Trump ihn begreift, ist unsicher, seine Berater tun es auf jeden Fall. Damit auch wir es tun, müssen wir zunächst einen Blick in die jüngere Geschichte werfen.
Noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges trafen sich die damals wichtigsten Ökonomen in einem Hotel in Bretton Woods im Bundesstaat New Hampshire zu einer Konferenz. Dabei ging es darum, die Fehler, die nach dem Ersten Weltkrieg gemacht wurden und die den Aufstieg von Kommunismus und Faschismus zur Folge hatten, nicht zu wiederholen. Entstanden sind die Verträge und Institutionen, die bis heute den Welthandel bestimmen: der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und das Zollabkommen GATT, das in die Welthandelsorganisation WTO umgewandelt wurde.
Der amerikanische Mittelstand war der große Gewinner von Bretton Woods. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach in den USA dank einer geschickten Wirtschaftspolitik tatsächlich so etwas wie eine "goldene Ära" aus. Auch einfache Arbeiter konnten sich ein eigenes Haus und ein Auto leisten, die Ehefrau musste nicht arbeiten und die Kinder konnten problemlos studieren.
Die "goldene Ära" dauerte rund 30 Jahre, dann folgten der Neoliberalismus und die Globalisierung. Der amerikanische Mittelstand wurde in der Folge zum großen Verlierer, wie der Ökonom Branko Milanović in seiner berühmten "Elefantengrafik" eindrücklich aufgezeigt hat.
Die gut bezahlten Jobs wanderten nach Mexiko und China ab, amerikanische Arbeiter in der Autoindustrie mussten auf bis zu zwei Drittel ihres Lohnes verzichten. Die einst blühenden Industriestädte im Mittleren Westen verwandelten sich in Ruinen. Dass dank Walmart und China die Preise fielen, war ein schwacher Trost.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA ein Land mit relativ wenig Ungleichheit in Einkommen und Vermögen. Vier Jahrzehnte Neoliberalismus haben dies gründlich verändert. Inzwischen gibt es eine Elite von Milliardären, eine wohlhabende Oberschicht und einen breiten unteren Mittelstand, der am Rande der Armut lebt.
Fast die Hälfte der Amerikanerinnen und Amerikaner lebt "von Paycheck zu Paycheck", will heißen, vom bescheidenen Lohn, der alle zwei Wochen eintrudelt. Nicht geplante Ausgaben von ein paar hundert Dollar können das Haushaltsbudget durcheinanderbringen.
Die extreme Wohlstandsschere ist letztlich auch der Grund für den Hass, der die Menschen in den USA in zwei Lager teilt. Er ist auch der Grund, weshalb die Parteien ihre Rollen getauscht haben. Die Demokraten, einst die Basis für Arbeiter und Gewerkschaften, sind heute die Partei der urbanen, gut ausgebildeten Eliten. Die Republikaner, einst die Partei, die für Freihandel eingetreten ist, versteht sich zunehmend als Anwalt der vergessenen, ärmeren Bevölkerung auf dem Land.
Womit wir beim Plan angelangt sind, den Trump und seine Anhänger verfolgen.
Die Trump-Regierung geht von folgenden Überlegungen aus: Die Verträge und Institutionen von Bretton Woods sind heute zum Hemmschuh für den amerikanischen Mittelstand geworden. Die USA profitieren nicht mehr davon, sie werden vielmehr ausgebeutet, primär von der EU, Kanada, Mexiko, Japan und Südkorea. Um eine neue "goldene Ära" einzuläuten, muss dieses System daher zerschlagen und ein neues errichtet werden.
Dazu braucht es die Zölle. Dank ihnen muss jeder, der vom riesigen amerikanischen Konsumentenmarkt profitieren will, gewissermaßen einen Eintritt bezahlen. Besser noch, er muss seine Produktion in die USA verlagern und damit zahlreiche und gut bezahlte Jobs schaffen. Die billige Konkurrenz von illegalen Einwanderern wird mit scharfen Grenzkontrollen und drakonischen Deportationen ausgeschaltet.
Dank der Einnahmen aus den Zöllen können auch die Steuern gesenkt werden. Peter Navarro, einer von Trumps ökonomischen Beratern, spricht von nicht weniger als sechs Billionen Dollar, die dank der neuen Zölle in den nächsten zehn Jahren in die amerikanische Staatskasse fließen werden.
Die amerikanischen Exporte sollen derweil mit einem schwächeren Dollar gefördert werden. Damit der Greenback trotzdem die globale Leitwährung bleibt, soll nach dem Vorbild des Pariser Abkommens aus den Achtzigerjahren das sogenannte Mar-a-Lago-Abkommen geschnürt werden. Damit soll nicht nur die Weltwirtschaft weiter an den Dollar gebunden bleiben, sondern auch die exorbitanten amerikanischen Staatsschulden getilgt werden.
Kurz: Mit den Strafzöllen und dem Mar-a-Lago-Abkommen sollen die Sünden des Neoliberalismus getilgt werden. Dass dabei der globale Welthandel vor die Hunde geht, nimmt man billigend in Kauf.
So weit der Plan. Nun zu Realität.
Die Weltwirtschaft von heute gehorcht völlig anderen Regeln, als dies während der "goldenen Ära" der Fall war. Globale Lieferketten sind fein aufeinander abgestimmt und umfassen oft mehrere Länder. Ob Computer oder Autos, vielfach werden Grenzen gleich mehrfach überschritten. Zu bestimmen, welche Zölle worauf erhoben werden, ist daher eine extrem komplexe Aufgabe. Was in der Theorie einleuchtend klingen mag, ist in der Praxis ein Rezept für ein gewaltiges Chaos.
Dieses Chaos ist bereits spürbar. Unternehmer sind verunsichert, weil sie nicht abschätzen können, wo und wann sie von diesen Zöllen betroffen werden. Konsumenten werden zurückhaltend, weil sie fürchten, dass die Zölle die Inflation beschleunigen werden. Investoren sehen ihre Gewinne an den Finanzmärkten davonschwimmen. Die US-Börsen erlebten soeben das schlechteste Quartal seit 2022. Darunter leiden die Rentner, deren Einkommen teilweise direkt an die Kurse der Aktienbörsen geknüpft ist.
Auch die Sache mit den Zolleinnahmen ist eine Illusion. Sie werden im besten Fall einen Bruchteil der Steuereinnahmen ersetzen und niemals die Ausfälle der versprochenen Steuererleichterungen an die Reichsten kompensieren. Zudem werden es letztlich die amerikanischen Konsumenten sein, welche diese zusätzlichen Kosten berappen müssen.
Die Regierung versucht bis anhin, dies herunterzuspielen. Billige Produkte seien nicht das oberste Ziel der Wirtschaftspolitik, erklärte jüngst Finanzminister Scott Bessent. Trump selbst gab derweil zu Protokoll, es sei ihm völlig egal, ob die ausländischen Autohersteller ihre Preise erhöhen würden oder nicht.
Wie lange solche Sprüche die Menschen noch überzeugen, ist fraglich, denn auch in der realen Wirtschaft zeigen sich deutliche Bremsspuren. So ist die amerikanische Wirtschaft im ersten Quartal möglicherweise bereits um 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts geschrumpft, definitive Zahlen fehlen noch. Die Bank Goldman Sachs hat daher die Wahrscheinlichkeit einer Rezession auf 35 Prozent erhöht.
In seiner ersten Amtszeit hat Trump jeweils rasch auf negative Signale von den Finanzmärkten reagiert. Diesmal gibt er sich gelassener. Offensichtlich ist er gewillt, als der amerikanische Präsident in die Geschichte einzugehen, der die Weltwirtschaft neu organisiert hat. Deshalb setzt er auf seine altbewährte Methode, auf Ablenkung. Oder weshalb glaubt ihr, würde er sonst von einer dritten Amtszeit schwafeln?