Die innerpolitischen Zerwürfnisse in der Ukraine lassen sich nicht mehr so einfach unter den Teppich kehren. Präsident Wolodymyr Selenskyj muss sich immer häufiger massiver Kritik aus den eigenen Reihen stellen. Zwischen ihm und dem ukrainischen Generalstabschef Walerij Saluschnyj kriselt es deutlich. Doch der ist in der Bevölkerung äußerst beliebt. Auch andere Politiker stellen sich zunehmend hinter den ukrainischen Oberkommandierenden der Streitkräfte – und gegen den Präsidenten.
Erst am Wochenende hat Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in einem Aufsehen erregenden Interview gegen Selenskyj geschossen. Er machte ihm dort deutliche Vorwürfe: "Die Leute fragen sich, wieso wir auf diesen Krieg nicht besser vorbereitet waren. Wieso Selenskyj bis zum Schluss verneinte, dass es dazu kommen werde." Klitschko steht auf der Seite Saluschnyjs. Der Mann, der immer wieder den Präsidenten kritisiert – und von einer Pattsituation in Kriegen spricht. Sehr zum Unmut Selenskyjs.
Was Selenskyj nicht gefällt, ist Saluschnyjs Kommunikation nach außen. So hatte der Generalstabschef Anfang November in einem Gastbeitrag im britischen Medium "Economist" über den damals aktuellen Stand des Krieges gegen Russland geschrieben. Darin sagte er unter anderem, dass in naher Zukunft weder Russland noch die Ukraine nennenswerte Erfolge erzielen werden. Die Sommeroffensive, für die die Ukraine Milliardenhilfen von westlichen Partnern erhalten hatte, ist gescheitert. Zumindest, wenn es nach Meinung Saluschnyjs geht. Ganz anders die Kommunikation Selenskyjs: Er fällt international mit Siegesrhetorik auf.
Nach dem Interview schossen mehrere Politiker:innen – vor allem aus dem Umkreis Selenskyjs und dem Präsidialamt unter Leitung von Andriy Yermak – gegen Saluschnyj. So kritisierte etwa der stellvertretende Leiter des Präsidialamtes, Ihor Zhovkva, dass es keine gute Idee sei, die Geschehnisse an der Front öffentlich zu machen:
Denn das helfe vor allem Russland.
Dann erschien ein weiterer Artikel, diesmal in der "Time" am 4. November. Auch hier kommt Selenskyj nicht ausschließlich gut weg. So ging es um die Entscheidungen des Präsidenten im Krieg und wie er dem Militär Befehle erteilt. Auch von Intrigen ist die Rede.
So sagten etwa anonyme Berater des Präsidenten, dass mindestens ein Minister und ein hoher, für die Gegenoffensive zuständiger General zurücktreten müssten. Der Grund: zu langsame Fortschritte an der Front. Und in der Tat: Selenskyj entließ kurze Zeit darauf den Kommandeur der Spezialeinheiten, Viktor Khorenko. Brisant ist, dass diese Entlassung eigentlich in den Aufgabenbereich von Saluschnyj fiele. Wie später herauskam, hatte dieser die entsprechende Urkunde nicht unterzeichnet.
Laut des für gewöhnlich gut informierten und einflussreichen Militärjournalisten Jurij Butussow liefen hier "Intrigen" im Umgang des Präsidialbüros mit der Armeeführung ab. Demnach war weder die Entlassung von Khorenko noch die Ernennung seines Nachfolgers Serhij Lupantschuk mit Saluschnyj abgesprochen.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar: Hier läuft innerpolitisch etwas gewaltig schief. Butussow forderte in einem Video eine Debatte über die innerpolitischen Konflikte zwischen der Armeeführung und der Regierung. Denn beide müssten mit einer gemeinsamen Strategie an einem Strang ziehen, wie er findet. Die aktuelle Situation und die Zerwürfnisse fordern seiner Meinung nach ansonsten vor allem eines: Menschenleben.
Selenskyj aber schoss seinerseits mit deutlichen Worten gegen Saluschnyj und die Generäle an der Front. Er sagte gegenüber der britischen Boulevardzeitung "The Sun": "Wenn ein Militär beschließt, in die Politik zu gehen, dann ist das sein Recht, dann sollte er in die Politik gehen, aber dann kann er nicht in den Krieg ziehen."
Man könne den Krieg nicht mit dem Gedanken führen, sich künftig in der Politik oder bei Wahlen zu engagieren. Denn dann verhalte man sich an der Front wie ein Politiker und nicht wie ein Militär. "Das halte ich für einen großen Fehler", sagte Selenskyj. Und: "Bei allem Respekt für General Saluschnyj und alle Kommandeure, die auf dem Schlachtfeld stehen, es gibt eine Hierarchie und das ist alles, und es kann nicht zwei, drei, vier, fünf Befehlshaber geben."
Tatsächlich wäre Saluschnyj der einzige ernstzunehmende Gegenkandidat für Selenskyj. Das ist das, worauf der Präsident anspielt. Denn der Generalstabschef ist der einzige, der annähernd so hohe Sympathiewerte in der ukrainischen Gesellschaft hat wie Selenskyj. Laut einer Umfrage vom 1. Dezember käme Selenskyj bei einer Stichwahl auf 42 Prozent und Saluschnyj auf 40 Prozent der Stimmen.
Allerdings werden ohnehin keine Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr stattfinden. Denn die meisten Ukrainer:innen sind angesichts des Krieges dagegen. Und auch offensichtliche Gegner Selenskyjs, wie der Kiewer Bürgermeister, halten halbwegs friedliche Verhältnisse in der ukrainischen Führung bis Ende des Krieges für wichtig.
Es gibt seit Bekanntwerden der Zerwürfnisse und der offenen gegenseitigen Kritik immer wieder Spekulationen über einen angeblichen Rücktritt von Saluschnyj. Dies wurde auch in den eigenen Reihen gefordert. Wie etwa von der stellvertretenden Vorsitzenden des Ausschusses für nationale Sicherheit im Parlament, Maryana Bezuglaya. Sie kritisiert, dass die Militärführung keinen Plan für den Krieg im kommenden Jahr habe.
Dass Selenskyj den Generalstabschef entlässt, ist eher unwahrscheinlich. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt. Denn das birgt für Selenskyj gleich mehrere Risiken. So warnt der ukrainische Politologe Wolodymyr Fesenko vor einer Spaltung der ukrainischen Gesellschaft im Falle einer Entlassung oder eines Rücktritts Saluschnyjs. Zudem könnte es sein, dass dies negative Auswirkungen auf den internationalen Rückhalt hat. Denn: Der Generalstabschef genießt ein hohes Ansehen bei vielen Militärs im Westen.
Zudem steht er als der Drahtzieher hinter der erfolgreichen "Wunder-Verteidigung" der Ukraine, die selbst die Russen und die internationale Gemeinschaft überrascht hatte. Außerdem droht Selenskyj potenziell auch ein politisches Risiko im Falle eines militärischen Rückzugs Saluschnyjs. Denn der als Gesicht in der politischen Opposition dürfte für Selenskyj kein Zuckerschlecken sein.
Kritiker hätten mit einer Entlassung darüber hinaus ein Argument mehr. Fesenko erklärt dazu: "Wenn Saluschnyj seine eigene politische Tätigkeit aufnimmt und beginnt, ein politisches Team zu bilden, dann wird der Präsident einen mächtigen Konkurrenten haben, den es heute nicht gibt."