Jahrzehntelang war Google die Anlaufstelle Nummer 1 bei der schnellen Suche nach Informationen – nicht nur, wenn es um die US-Wahl geht. Doch dies beginnt sich zu ändern. Wer heute Antworten auf seine Fragen will, greift immer häufiger zu anderen Mitteln: Da wären etwa die zahlreichen KI-Bots.
Doch auch Social Media spielt im Wahlkampf eine immer größere Rolle.
In einem Clip ist der ehemalige US-Präsident Barack Obama zu sehen, wie er die Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris umarmt. Das Video ist emotional, Millionen Menschen haben es gesehen. Es stammt nicht von einem beliebigen Tiktok-Kanal, sondern ist beim offiziellen Account der US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris zu finden.
Das Video ist Teil des Gesamt-Konzepts, bestehend aus zahlreichen informativen, aber auch lustigen oder emotionalen Videos. Sie sind für Harris' Präsenz im Wahlkampf extrem wichtig.
Denn bei dieser Wahl geht es für sie und ihren Kontrahenten Donald Trump um alles.
Die Art und Weise, wie Wahlkampagnen gestaltet werden, hat sich grundlegend verändert. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Kandidat:innen die Werbetrommel vor allem mit Plakaten und im Fernsehen rühren. Tiktok ist heute für die Wahlkampagne von enormer Bedeutung und wird als zentrale Plattform des Wahlkampfs 2024 angesehen – der erste "richtige" Tiktok-Wahlkampf der US-Geschichte.
"Diese Wahl ist die Tiktok-Wahl", sagt Lara Cohen der "Financial Times". Sie ist die Leiterin der Kreativabteilung von Linktree, die an Initiativen zur Wählerwerbung gearbeitet hat. Während das Rennen um das Weiße Haus 2016 als "Facebook-Wahl" bezeichnet wurde, hat sich nun Tiktok als die Plattform für den Online-Kampf um junge Wähler:innen etabliert.
Die Kandidat:innen wissen, dass sie die Generation Z ansprechen müssen, um den Wahlsieg zu holen. "Und das beginnt damit, online Begeisterung zu erzeugen", sagt sie.
Facebook spielt für diese Zielgruppe jedoch kaum noch eine Rolle, da viele jüngere Menschen die Plattform nicht mehr nutzen. Zudem hat Facebooks Mutterkonzern Meta seinen Algorithmus gezielt so angepasst, dass politische Inhalte weniger sichtbar sind. Elon Musks Pro-Trump-Stellungnahme hat darüber hinaus viele User seiner Plattform X verprellt.
Der Algorithmus von Tiktok aber ermöglicht es den Kandidat:innen, neue Zielgruppen zu erreichen. Sogar jene, die nicht nach politischen Inhalten suchen. Denn die App ist so aufgebaut, dass sie User:innen mit einem süchtig machenden Strom beliebter Kurzvideos füttert.
"Der Algorithmus verbreitet Inhalte nach ihrem Viralitätspotenzial", erklärt der international tätige Politikberater und Kommunikationsexperte Bendix Hügelmann auf Anfrage von watson. Die Account-Größe sei dabei nur ein Faktor von vielen, die über die Reichweite eines Beitrags entscheiden. "Wichtiger ist die Frage, wie stark Nutzerinnen und Nutzer mit den Inhalten interagieren", sagt er.
Studien bestätigen: Tiktok wird für junge Erwachsene in den USA immer wichtiger, um sich politisch zu informieren.
Ein Drittel der amerikanischen Erwachsenen unter 30 bezieht laut einer Studie des Pew Research Center seine Nachrichten über Tiktok. Immer mehr junge Wähler:innen informieren sich dort über politische Geschehnisse – und die Präsidentschaftskandidat:innen haben diesen Trend längst für sich entdeckt.
Wie groß der Einfluss von Tiktok auf den Wahlausgang tatsächlich sein wird, lässt sich jedoch schwer messen. "Die Plattform ermöglicht es, gezielte Botschaften an wahlentscheidende Gruppen, insbesondere junge Erstwählerinnen und Erstwähler, zu vermitteln", erklärt Hügelmann.
Aufgrund der Algorithmus-basierten Verbreitung der Clips können virale Inhalte ihm zufolge große Reichweiten erzielen und Einfluss nehmen.
"Das Design der App ermöglicht die Interaktion zwischen gegensätzlichen Filterblasen", sagt Crystal Abidin, Professorin für Internetstudien an der Curtin University in Perth in der "Financial Times". So erreichen die Inhalte auch User:innen außerhalb der eigenen Bubble.
Angesichts der globalen Nutzerbasis von Tiktok – über eine Milliarde Menschen verwenden die App regelmäßig – ist der Aufstieg der Plattform als politisches Medium kaum noch aufzuhalten, insbesondere in Demokratien.
"Studien zur Wirkung sozialer Medien auf Wahlentscheidungen zeigen, dass Social-Media-Plattformen emotional ansprechende Inhalte besonders effektiv verbreiten können", sagt er. Dies könne Wähler:innen dazu motivieren, sich politisch zu engagieren oder überhaupt zur Wahl zu gehen.
"Die konkreten inhaltlichen Punkte treten dabei immer öfter in den Hintergrund", erklärt Hügelmann. In der politischen Kommunikation in Deutschland sei dieses Phänomen bisher kaum zu beobachten.
Blickt man auf die Tiktok-Kanäle der beiden Präsidentschaftskandidat:innen, ist dies aber gut erkennbar. Besonders bei Trump, der nicht gerade für seine Faktentreue bekannt ist. Fake News können also zum echten Problem werden.
Für Kamala Harris und Donald Trump geht es auf der Plattform nicht nur darum, die eigene Kampagne in Szene zu setzen. Ein wichtiger Faktor ist auch, die Konkurrenz zu diskreditieren. Inhalte sind oft gespickt mit Memes, Popkultur-Referenzen und dem typischen "Netspeak", also Internet-Slang, um jüngere Wähler:innen besser zu erreichen.
Beide Kandidat:innen nutzen auf Tiktok unterschiedliche Strategien, wie Hügelmann erklärt. Die Inhalte von Kamala Harris seien oft positiv und inklusiv und sprechen soziale Gerechtigkeitsthemen an. Doch ihre Präsenz auf Tiktok sei weniger stark ausgeprägt als die ihres Kontrahenten. Eigentlich eine Schwäche im Vergleich zu ihm. Der Experte sagt dazu:
So zeigt sich der Erfolg der Videos bei den Kandidat:innen ebenfalls unterschiedlich. Trump beispielsweise erzielt signifikant höhere View-Zahlen, Harris postet dafür um ein Vielfaches mehr. "Es ist derzeit schwer zu sagen, welche Strategie am Ende aufgeht", sagt der Experte.
Tiktok gerät in den USA regelmäßig in die Kritik. Grund dafür ist die chinesische Eigentümerschaft der App. Denn die Muttergesellschaft ByteDance hat ihren Sitz in der Volksrepublik China.
In Washington wächst die Sorge, dass die Plattform zur Einflussnahme auf politische Diskurse in den USA genutzt werden könnte. So warnt der US-Geheimdienst und ein Bericht des Director of National Intelligence vor möglichen Manipulationsversuchen Chinas über Tiktok.
Auf Regierungsgeräten in den USA ist Tiktok aus Datenschutzgründen verboten. Und nicht nur dort: Auch in den EU-Institutionen ist Mitarbeitenden die Nutzung von Tiktok untersagt. Ein generelles Verbot steht regelmäßig zur Debatte.
US-Präsident Joe Biden unterzeichnete im April 2024 ein Gesetz, das Tiktok verpflichtet, sich bis Januar 2025 von ByteDance zu trennen. Sollte dies nicht geschehen, droht Tiktok der Rauswurf aus den App-Stores von Google und Apple. ByteDance und Tiktok reichten im Mai Klage gegen dieses Gesetz ein. Ein Gericht könnte bereits im Dezember 2024 eine Entscheidung fällen, bevor das Gesetz in Kraft tritt.
Spannend ist also auch ein Blick ins Jahr 2028. Womöglich tritt dann im Wahlkampf der neuerlichen US-Wahl schon wieder eine ganz andere Plattform ins Social-Media-Rampenlicht.