In 68 Jahren seit 1946 sollen sich 1670 Kleriker an 3677 Minderjährigen vergangen haben. Das sind die Zahlen, die eine Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz vorlegt. Sie wurde am Dienstag in Fulda vorgestellt. Die Fallzahlen waren schon ein paar Wochen vorher durchgesickert. So hatten u.a. Spiegel Online berichtet.
Die Studie erfasst Fälle bis 2014. Doch sie zeigt ebenso, dass die Kirche das Missbrauchsproblem bis heute nicht im Griff hat. Der Leiter der Studie war "erschüttert" über die Ergebnisse. Er habe an sich als forensischer Psychiater eine professionelle Distanz, sagte Harald Dreßing. Aber sowohl das Ausmaß als auch der Umgang der Kirchenverantwortlichen mit den Taten hätten ihn erschüttert.
Dreßen sagte, die genaue Zahl der Täter werde sich nicht ermitteln lassen. Die von den Studienmachern angegebene Zahl von 1670 Klerikern sei nur die aus den vorliegenden Akten ermittelbare "untere Schätzgröße" für eine Zahl der Täter.
Dreßen nannte beispielhaft für Strukturen, die den Missbrauch begünstigen können:
Wie der Studienleiter sagte, zog die Kirche noch immer nicht die nötigen Konsequenzen aus dem Bekanntwerden des Missbrauchskandals im Jahre 2010. Weitere Prävention und Aufklärung seien dringend notwendig.
Dreßing betonte, die Missbrauchsthematik sei keineswegs überwunden: "Das Risiko besteht fort." Er sagte, wenn die Kirche die Missbrauchsthematik in Zukunft wirklich überwinden wolle, müsse sie sich mit den oben genannten Strukturen "ernsthaft und mit dem Mut zur Veränderung" befassen.
Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, hat die Opfer um Entschuldigung gebeten. "Allzulange ist in der Kirche Missbrauch geleugnet, weggeschaut und vertuscht worden. Für dieses Versagen und für allen Schmerz bitte ich um Entschuldigung", erklärte Marx in Fulda.
Er fügte an: "Ich schäme mich für das Vertrauen, das zerstört wurde; für die Verbrechen, die Menschen durch Amtspersonen der Kirche angetan wurden; und ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben." Das gelte auch für ihn selbst.
Und: "Viele Menschen glauben uns nicht mehr. Und ich habe dafür Verständnis." Marx hatte am Montag in diesem Zusammenhang angedeutet, dass die Bischöfe im Laufe der Woche bei ihrer Herbst-Vollversammlung in Fulda auch über mögliche Strukturänderungen in der Kirche beraten wollten. Er sprach von "einem Wendepunkt für die katholische Kirche in Deutschland – und nicht nur in Deutschland".
Betroffene sind laut der Studie überwiegend männlich. Das ist ein Unterschied zu anderen Umfeldern, in denen häufiger Mädchen missbraucht werden. Die Opfer waren im Durchschnitt nicht älter als 13. Meist vergingen sich Kleriker an den jeweiligen Betroffenen mehrfach und der Missbrauch zog sich im Durchschnitt über mindestens eineinhalb Jahre.
Es gibt verschiedene denkbare Gründe, warum mehr Jungen zu Opfern wurden:
Betroffene zu schützen war zweitrangig, zuerst ging es darum, die Kirche zu schützen. Diesen Eindruck erweckt die Studie.
Nur in 50 Prozent der als von der katholischen Kirche als plausibel eingestuften Beschuldigungen sind als Vermerk in den Personalakten der beschuldigten Klerikers gelandet. Die Auswertung der Strafakten ermöglichte, dass die übrigen 50 Prozent aufgedeckt wurden.
Die Hälfte der Fälle wäre also im Falle einer reinen Personalakten-Analyse nie entdeckt worden. Nicht nur daran lässt sich nur erahnen, wie groß das Dunkelfeld sein muss.
Dass die Zahl der Missbrauchsmeldungen gegen katholische Geistliche zurückgehe, hieße nicht, dass das Problem nicht andauere. Denn auch die Zahl der Kleriker sei rückläufig.
Viele Betroffene haben noch immer mit sozialen und gesundheitlichen Problemen zu kämpfen:
Für einige dauernd diese Zustände noch Jahrzehnte nach den Vorfällen an. Sie haben Probleme, Beziehungen zu führen und Sexualität auszleben. Manche Opfer sind tief in ihrem Glauben und ihrer Spiritualität erschüttert.
Die Forscher sagen selbst, dass ihre Ergebnisse nur die Spitze des Eisbergs seien. Wenn man sich anschaut, welche Daten ihnen zur Verfügung standen, dürfte ein erheblicher Anteil der Fälle im Dunkeln geblieben sein.
Aus datenschutzrechtlichen Gründen – wie Harald Dreßing sagt – war es nicht möglich, die Kirchenarchive einzusehen. Für das Forschungsprojekt lagen 38.156 Personal- und Strafakten von Geistlichen aus den Jahren 1946 bis 2014 vor. Die Daten waren anonymisiert. Deshalb ist im Bericht auch stets von Beschuldigten, nicht von Tätern die Rede. Während der Vorstellung der Studie betonten die Forscher, dass die Kirche keinerlei Einfluss auf die Studie gehabt habe. Er und seine Kollegen hätten aus dem, was ihnen zur Verfügung stand, das Maximale aus den Daten herausgeholt.
Zuvor hatte es aber Kritik gegeben. Unter anderem von einem, der selbst mal an der Studie mitgewirkt hat, dem Kriminologen Christian Pfeiffer, der Spiegel Online sagte: "Der Täterseite die Datenanalyse zu übertragen, geht gar nicht. Damit macht sich die Kirche unglaubwürdig." Pfeiffer war 2011 mit der Durchführung der Studie beauftragt, aber später von der Aufgabe entbunden worden, nachdem er sich über mutmaßliche Zensur durch die Kirche und Intransparenz beschwert hatte.
(sg/afp/dpa)