Ekaterina Glikman hat bis 2019 in Russland als Journalistin gearbeitet – unter schwierigen Bedingungen, wie sie sagt. In dieser Zeit hat sie auch Kolleg:innen verloren.Bild: bild / Ekaterina Glikman
Die Stimme
Sechs Porträts hängen an der Wand im Konferenzraum der russischen Zeitung "Nowaja Gaseta".
Sechs Gesichter. Sechs Leben, ausgelöscht durch den Kreml.
"Meine Kollegen sind gestorben, weil sie ihren Job gemacht haben", erzählt die Journalistin Ekaterina Glikman im Gespräch mit watson. Mit leiser Stimme fügt sie hinzu: "Das ist traumatisierend." An sowas gewöhne man sich nie.
20 Jahre lang hat Glikman für die "Nowaja Gaseta" gearbeitet – Russlands wichtigste unabhängige Zeitung. Ihr Chefredakteur, Dmitri Muratow, wurde für seine Verdienste um die Meinungsfreiheit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. 2019 zog die russische Journalistin der Liebe wegen in die Schweiz, von dort aus arbeitete sie als Korrespondentin.
Dann kam der Krieg in der Ukraine.
Der Druck auf die Medien in Russland stieg an – so sehr, dass die Kreml-kritische "Nowaja Gaseta" im März 2022 ihren Betrieb einstellen musste.
Dmitri Muratow, Chefredakteur der "Nowaja Gaseta" zeigt den letzten Druck seiner Zeitung vom 28. März 2022.Bild: dpa / Salvatore Di Nolfi
"Die Situation für uns Journalisten war noch nie gut im Land, aber im Frühjahr 2022 wurde es noch schlimmer", sagt die gebürtige Russin. Das Putin-Regime führe regelrecht Krieg gegen die Medien. Ein falsches Wort und du landest im Gefängnis. Das gilt wohl nicht nur für Journalist:innen. Glikman kenne Menschen, die wegen Kommentaren auf sozialen Plattformen hinter Gittern sitzen.
"Viele meiner Kollegen in Russland schreiben unter einem Pseudonym, um sich zu schützen", sagt die Journalistin. Es sei unheimlich schwierig, an Quellen, Expert:innen oder Stimmen auf den Straßen heranzukommen. Sie sagt:
"Wenn jemand mit dir spricht, dann nur anonym. Entweder man schreibt Artikel ohne Stimmen oder mit anonymen Quellen. Aber was ist das für ein Journalismus auf Dauer?"
Wer konnte, ist aus Russland geflohen, fügt sie hinzu. Im Ausland blieben die Journalist:innen in Kontakt und gründeten die "Nowaja Gaseta Europe". "Das Team ist sehr jung, denn für die älteren Kollegen ist es schwieriger, von heute auf morgen das Land zu verlassen", erklärt Glikman.
Die lettische und russische Ausgabe der "Nowaja Gaseta Europa".Bild: dpa / Alexander Welscher
Unter großem Druck versuchen Journalist:innen weiterhin in Russland ihrer Arbeit nachzugehen. Dabei nutzen sie neue Wege über Youtube-Kanäle oder andere digitale Plattformen. Doch über den Krieg in der Ukraine zu schreiben sei ein großes Tabuthema – lebensgefährlich, wie Glikman sagt.
Maulkorb für russische Journalist:innen: Über den Krieg in der Ukraine dürfen sie nicht frei berichten.Bild: AP / Roman Chop
"Wer über die Wahrheit schreibt, landet vielleicht im Knast oder im schlimmsten Fall unter der Erde." Die Worte verlassen ihren Mund oftmals zögerlich. Als überlege die Russin genau, wie sie ihre Sätze formulieren soll. Liegt es daran, dass sie nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Englisch spricht? Oder ist es ein tiefsitzender Schutzmechanismus einer Frau, die jahrelang unter Putin als Journalistin gearbeitet hat?
"Ich war betrunken von der Freiheit."
"Viele können sich dieses Gefühl einfach nicht vorstellen", sagt sie. Ihr Schweizer Mann sei ein "normaler Journalist", wie sie sagt. Wann immer sie von der Lage ihrer Kollegen in Russland berichtet, verdunkle sich sein Gesicht. "Daran erkenne ich: Oh, das ist nicht normal", sagt Glikman. Sie lacht und klingt dabei traurig.
Ekaterina Glikman gewöhnt sich erst noch an die Freiheiten, die sie nun in der Schweiz genießen darf. Bild: Ekaterina Glikman
Demonstrieren auf offener Straße – unvorstellbar in Russland
Es sei verrückt, woran sich ein Mensch gewöhnen könne, meint sie. Die Journalistin erinnere sich an einen prägenden Moment in ihrem Leben: das erste Mal auf einer Demonstration in der Schweiz. "Ich stand mitten auf der Straße – frei – und konnte schreien, was ich wollte", sagt sie mit einer kraftvollen Stimme, als stünde sie gerade dort, mit einem Plakat in den Händen. Es fühlte sich an, wie ein Traum. "Ich war betrunken von der Freiheit", meint die Russin.
"Die Mehrheit unterstützt Autoritäten."
Diese Art von Freiheit ist in Russland unvorstellbar. Dabei ist es Glikman zufolge doch menschlich, das sagen zu dürfen, was man denkt. Aber der russische Präsident Wladimir Putin setze offenbar genau dort an, wo es beginnt: bei den Gedanken.
Putin vergifte die Menschen mit seiner Propaganda.
Putins Propaganda-Apparat manipuliert das russische Volk
"So viele Menschen werden seit mehr als 20 Jahren manipuliert. Es geschieht langsam – jeden Tag ein bisschen mehr und mehr", sagt Glikman. Es sei ein gigantisches Experiment, vor dem wohl keine Nation immun ist.
Das russische Volk ist der Propaganda von Wladimir Putin ausgesetzt. Bild: IMAGO/SNA / Mikhail Klimentyev
Auf die Frage, ob ihrer Meinung nach ein großer Teil der russischen Bevölkerung den Krieg in der Ukraine wirklich unterstütze, antwortet sie: "Die Mehrheit unterstützt Autoritäten." Wir werden wohl nie erfahren, was wirklich in den Köpfen der Menschen vor sich geht. Viele halten sich an der Devise: Schweigen, zustimmen und keine Fragen stellen.
Nicht aufmüpfig sein, sich anpassen und den Mund halten – nach dieser Devise leben viele Russen.Bild: AP / Alexander Zemlianichenko
Laut Glikman ist das ein Resultat von Propaganda, Angst und der fehlenden Möglichkeit, sich politisch zu involvieren. Die russische Gesellschaft verharrt in einem passiven Status. "Wer leise ist und Dinge aussitzt, ist auf der sicheren Seite", sagt die Russin. Und Sicherheit sei nun mal ein menschliches Bedürfnis.
Ein weiterer Faktor sei die große Armut in Russland.
Armut in Russland spielt Putin in die Hände
Laut Glikman lebt die Mehrheit der Russen in großer Armut. Da bliebe nicht mehr viel Zeit, sich mit dem Weltgeschehen auseinanderzusetzen. "Sie arbeiten, essen, schlafen – nebenher läuft das Staatsfernsehen und vergiftet die Köpfe", sagt die Journalistin.
Für Putin sei es leichtes Spiel, diese Männer für Geld aus der Armut an die Front zu locken. Sie seien so verzweifelt und hätten ohnehin nichts zu verlieren.
Ein russischer Mann verabschiedet sich von seiner Familie, bevor er an die Front geschickt wird. Bild: AP
Aus Gesprächen mit russischen Soldaten weiß Glikman, dass viele überrascht gewesen seien, dass in der Ukraine ein "echter Krieg" wütet. "Sie waren nicht auf die Realität vorbereitet", sagt sie. Wie auch? Die russische Bevölkerung bekommt Glikman zufolge nicht die Bilder von toten russischen Soldaten zu sehen, die teils mit fehlender Ausrüstung an die Front geschickt werden.
Oder von den Massakern wie in Butscha.
Freiwillige laden die Leichen der in Butscha getöteten Zivilist:innen auf einen Lastwagen.Bild: AP / Rodrigo Abd
"Viele Russen kennen die Wahrheit nicht", sagt sie. Auf der anderen Seite gebe es aber immer noch russische Bürger:innen, die für die Wahrheit ihr Leben riskieren. Dies schenke Glikman Hoffnung.
"Sie kämpfen in Russland im Untergrund oder über verborgene Wege weiter", sagt die Journalistin. Putin habe zwar alles zerstört, aber noch lange nicht den letzten Funken erlöscht, dass Menschen etwas gegen diese schrecklichen Zeiten in Russland unternehmen.
Sie betont mit eiserner Stimme, dass sie ihre sechs Kollegen allesamt während des Putins Regimes verloren habe. Durch die sechs Porträts an der Wand des Konferenzraumes der "Nowaja Gaseta" seien sie immer mit uns gewesen, sagt Glikman. Auf die Frage, ob die Fotos auch als Warnzeichen dort hängen, antwortet sie forsch: "Im Gegenteil, ihr Tod hat niemanden von uns aufgehalten."