Wenn es jetzt noch halbwegs gut läuft, dann wird das am 26. September ein guter Abend für die FDP. Zwischen 11 und 13 Prozent liegt die Partei in den aktuellen Umfragen. Wenn das Ergebnis bei der Bundestagswahl in diesem Bereich läge, wäre es eines der besten der Geschichte. Vor einem Jahr krebste die Partei um die Fünfprozent-Hürde herum, seither hat sie eine bemerkenswerte Aufholjagd geschafft.
Wie fühlt es sich an, in diesen Zeiten für die FDP um Stimmen zu werben? Warum wählen deutlich mehr junge Menschen die Grünen als die FDP? Müssen sich sozial benachteiligte Menschen Sorgen machen, wenn die Liberalen in der nächsten Bundesregierung sitzen? Was tut die Partei, damit endlich mehr Frauen in Spitzenpositionen kommen?
watson hat darüber mit zwei unterschiedlichen FDP-Vertretern in einem Doppelinterview gesprochen: mit Noreen Thiel, 18-jährige FDP-Bundestagskandidatin im Berliner Wahlkreis Lichtenberg – und Volker Wissing, seit 2020 Generalsekretär der FDP und der mächtigste Mann in der Partei neben dem Vorsitzenden Christian Lindner.
watson: Noreen, du hast am 19. Januar 2021 bekannt gegeben, dass du für den Bundestag kandidierst. Hast du das seither bereut?
Noreen Thiel: Bereut habe ich es nicht, aber es gab Momente, die echt hart waren.
watson: Welche?
Thiel: Oh Gott, wenn du in der FDP bist, sorgen viele Themen für Shitstorm-Potenzial. Ich habe mich immer wieder mal gefragt, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe.
watson: Kannst Du eine konkrete Situation nennen?
Thiel: Tatsächlich hat die sozialmediale Enthüllung meiner Plakatmotive schon für einen kleinen Shitstorm gesorgt, weil laut manchen Internetusern "Mental Health" und FDP ja nicht zusammenpassen würden.
watson: Du meinst die Plakate mit dem englischen Spruch “Mental Health Matters”, mit denen Du in Berlin-Lichtenberg wirbst. Herr Wissing, würden Sie sich in Ihrem Wahlkreis in Rheinland-Pfalz auch trauen, mit so einem Spruch in den Wahlkampf zu gehen?
Volker Wissing: Ja. Wenn man sich zu einem globalen Miteinander bekennt, für Freihandel und kulturellen Austausch wirbt, dann ist das doch authentisch. Für mich ist die englische Sprache Teil eines modernen Lebens. Wir stehen als FDP für einen progressiven, modernen Kurs. Ich finde es albern, gegen Anglizismen vorzugehen. Und das Thema der psychischen Gesundheit ist gerade auch mit Blick auf die Corona-Pandemie aktueller denn je. Wenn Menschen sich isolieren, ihr Leben umstellen und auf einmal sehr viel Unsicherheit ertragen müssen, dann macht das etwas mit ihnen und ich finde es sehr gut, wenn die Politik so etwas aufgreift und damit signalisiert: Wir nehmen das ernst.
watson: Sie sind also nicht auf der Linie von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der sich 2017 mal darüber aufgeregt hat, dass in manchen Lokalen in Berlin die Kellner nur Englisch reden.
Wissing: Ich finde es überhaupt kein Problem, wenn man sich auf Englisch anspricht. Viele junge Menschen kommunizieren auf Englisch. Es gibt Dinge, die man auf Englisch auch besser sagen kann. Ich selbst spreche Französisch und erwische mich immer wieder dabei, dass ich Dinge lieber auf Französisch sage als auf Deutsch, weil ich die Formulierung treffender finde. Es ist doch eine Bereicherung, wenn man mehrere Sprachen sprechen kann, warum sollte man sich da beschränken?
Thiel: Mal abgesehen davon, dass "Psychische Gesundheit ist wichtig" auf so einem kleinen Plakat erstens ziemlich lang ist und zweitens eher nicht so gut klingt. (lacht)
Wissing: Ja, genau. Die kurze englische Version passt besser und man weiß genau, was gemeint ist. Das kommt an.
Thiel: Ich habe übrigens auch noch ein großflächiges Wahlplakat, auf dem der Spruch nochmal auf Deutsch steht. Darauf kann man es besser lesen und auch jeder verstehen.
watson: Herr Wissing, Berlin-Lichtenberg, wo Noreen Thiel antritt, ist für die FDP kein einfaches Pflaster: Seit der deutschen Einheit haben hier immer die Linkspartei oder ihre Vorgängerpartei PDS das Direktmandat gewonnen, der letzte FDP-Direktkandidat hat 3,4 Prozent der Erststimmen geholt. Was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass eine damals noch 17-Jährige für die FDP ausgerechnet dort als Direktkandidatin antritt?
Wissing: Ich habe mich gefreut. Ich finde es gut, wenn junge Leute sich engagieren. Wenn es ihnen nicht egal ist, wie sich das Land und damit ihre eigene Zukunft entwickelt, wenn sie Demokratie als ihre Sache sehen. Das zeigt für mich auch, dass das Kernthema der Freien Demokraten „Freiheit“ ein generationenübergreifendes ist. Wir haben uns als FDP intensiv mit der Situation, in der sich unser Land befindet, auseinandergesetzt. Der Klimawandel, die Corona-Pandemie sowie die Digitalisierung und haben festgestellt: Nie gab es mehr zu tun. Das gilt für Deutschland, aber auch für Lichtenberg.
Thiel: (lacht) Mein Eindruck ist, dass die Menschen in Lichtenberg mir gegenüber recht aufgeschlossen sind und sich sehr differenziert mit mir auseinandersetzen. Viele wollen sich zumindest informieren – auch wenn sie ihre Wahlentscheidung schon getroffen haben. Es ist nicht so, dass die Anfeindungen hier besonders krass wären.
watson: Herr Wissing, im Vergleich zu Noreen Thiel sind Sie sehr spät in die Politik gegangen: FDP-Beitritt mit 28, Einzug in den Bundestag mit 34, als Nachrücker. Das war im Jahr 2004. Inzwischen sind sie seit 17 Jahren in der Spitzenpolitik. Was ist der wichtigste Ratschlag, den Sie Noreen Thiel mitgeben würden?
Wissing: Das Wichtigste ist, dass sie sich eine nicht-politische Existenz bewahrt. Ich habe das gemacht, indem ich mich beruflich unabhängig aufgestellt habe – und mir ein privates Umfeld erhalten habe, das mir immer wichtiger war als die Politik. Nur wenn man das hat, kann man sich auch mal zurückziehen. Und damit bin ich auch unabhängig von einigen Vorteilen, die mit einem politischen Amt einhergehen. Wer in der Politik nicht persönlich unabhängig bleibt, wird unglücklich und unfrei.
watson: Noreen, glaubst du nach deinen ersten Monaten Erfahrung als Kandidatin, dass das so einfach geht: Persönlich unabhängig zu bleiben in der Politik?
Thiel: Ja, wenn man das möchte und dafür Bewusstsein hat, dann geht das sehr, sehr einfach. Ich glaube aber, viele verlieren dieses Bewusstsein, wenn sie ihre politische Karriere beginnen – und gehen dann zu 100 Prozent in der Kandidatur und später im Mandat oder im Amt auf. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Politik zwar ein elementarer Teil des Lebens ist, aber nicht überhandnimmt.
watson: Kommen wir zur politischen Lage. Es sind nur noch wenige Wochen zur Bundestagswahl, für die FDP sieht es laut Umfragen momentan ziemlich gut aus: doppelt so starke Werte wie vor einem Jahr, bei jungen Wählern kommt die Partei gut an. Laut einer Forsa-Umfrage würden 17 Prozent der Wähler bis 29 die FDP wählen, hinter den Grünen mit 36 Prozent. Noreen, freust du dich mehr darüber, dass die FDP bei Jungwählern an zweiter Stelle steht – oder ärgert es dich eher, dass ihr nicht mal halb so viele junge Menschen überzeugt wie die Grünen?
Thiel: Es ist natürlich ärgerlich, dass wir in dieser Gruppe noch recht weit hinter den Grünen liegen. Aber andererseits sind das Werte, auf denen wir aufbauen können: Wir haben ganz großes Potenzial bei jungen Leuten und können schauen, wie wir das weiter ausbauen.
Wissing: Die FDP und die Grünen greifen offensichtlich Themen auf, die der jungen Generation wichtig sind. Besser, als Union und SPD das tun. Da spielen Umweltfragen eine große Rolle, da werden ja sowohl die Grünen als auch die FDP sehr stark wahrgenommen.
watson: Aber was haben die Grünen in den Augen vieler junger Menschen, das die FDP nicht hat?
Thiel: Ich glaube, die Grünen sind in der Kommunikation besser. Es ist ärgerlich, wenn FDP-Politiker manchmal in verschachtelte Akademiker-Sätze rutschen. Das holt junge Menschen nicht so sehr ab, damit baust Du eine sprachliche Barriere zu ihnen auf. Die Grünen machen das besser, vor allem bei den Themen, mit denen sie junge Menschen erreichen.
Wissing: Die FDP ist eine Partei, die den Anspruch hat, Themen nicht einfach an den Staat zu delegieren. Es reicht uns nicht, ein Ge- oder Verbot zu fordern, wir sehen den Einzelnen in der Verantwortung. Das macht unsere Lösungsansätze in aller Regel komplexer. Aber auch die müssen wir klar und einfach kommunizieren. Wir arbeiten daran, nicht zu kompliziert zu formulieren. Und ich finde, wir nutzen in diesem Wahlkampf eine deutlich andere Sprache als in früheren Wahlkämpfen.
watson: Wo zum Beispiel?
Wissing: Wenn wir über Forschung und Entwicklung sprechen und über die Notwendigkeit, durch Innovation und Wettbewerb Zukunftsprobleme zu lösen, dann kann man das sehr kompliziert ausdrücken. Man kann aber auch sagen: Wir stehen für Freude am Erfinden – nicht am Verbieten. Damit drücken wir Optimismus aus – und grenzen uns von den Grünen ab, die eher auf Beschränkungen und Verbote setzen. Wir sagen den Menschen damit auch, dass wir ihnen etwas zutrauen und an sie glauben. Mein Leitbild ist immer noch der mündige Bürger, die mündige Bürgerin, aber nicht der oder die bevormundete.
watson: Extrem relevant für junge Menschen sind die Klimakrise und der Kampf dagegen. Die FDP versucht spätestens seit dem Klima-Parteitag 2019, sich auch als Klimaschutzpartei zu positionieren. Aber laut Umfragen trauen noch nicht allzu viele Menschen ihr zu, Lösungen umzusetzen. Woran liegt das, Noreen?
Thiel: Ich glaube, es ist schwer, die Lösungen der FDP so runterzubrechen, dass Menschen das verstehen. Ich glaube, für viele ist die Botschaft der Grünen viel griffiger.
watson: Wie meinst du das?
Thiel: Es ist einfach, wie die Grünen zu sagen, wir wollen das, das und das nicht – und das hilft dann. Wir haben einen vielschichtigeren Ansatz und sagen eben: Okay, wir in Deutschland können vielleicht auf manches verzichten. Wir müssen aber auch darauf achten, dass es für Menschen in manchen afrikanischen Staaten oder in Indien nicht möglich ist, zu verzichten. Der Weg zur Klimaneutralität kann zwar in Deutschland und Europa starten, er ist aber erst beendet, wenn alle Emissionen weltweit einen einheitlichen marktwirtschaftlichen CO2-Preis haben. Diese Vorstellung müssen wir über die Sprachbarriere tragen, die uns von manchen Menschen trennt.
watson: Herr Wissing, hat die FDP da ein Problem: Dass sie ihr Klimakonzept, einen Ausbau des Emissionshandels mit nach und nach sinkender CO2-Obergrenze, nicht einfach rüberbringen kann?
Wissing: Politik kann sich nicht nur darauf konzentrieren, Dinge einfach zu formulieren, die Lösungen müssen auch funktionieren. Die Grünen sagen: Wir regulieren die Preise für CO2. Wenn sie zu niedrig sind, setzen wir sie hoch. Wenn sie zu hoch sind, setzen wir sie runter. Klar ist das einfacher zu formulieren als unsere Vorschläge. Aber dabei verschweigt man der Öffentlichkeit, dass die Politik den richtigen Preis gar nicht kennt, sodass man eigentlich fast immer falsche Preise hat. Deswegen sagen wir: So kann es nicht funktionieren. Wir wollen einen gesetzlichen Rahmen schaffen, wie viel CO2 im Jahr ausgestoßen werden darf. Für den Ausstoß müssen Zertifikate erworben werden, die von Jahr zu Jahr weniger und damit teurer werden. Die Preisbildung überlassen wir dem Markt. Das ist wesentlich wirkungsvoller.
watson: Andererseits ist es ziemlich wahrscheinlich, dass sie bald mit den Grünen zusammen regieren werden. FDP-Chef Christian Lindner hat in Sachen Koalition vergleichsweise deutlich gesagt, dass er lieber mit der Union zusammengeht – und eine Ampel mit SPD und Grünen eher als schwierig sieht. Welche Koalition soll es denn werden?
Thiel: Ich mag diese Frage nicht. Ich persönlich bin nämlich nicht in der Position, irgendwelche Koalitionsverhandlungen führen zu müssen. Außerdem hängt es davon ab, was in so einer Koalitionsverhandlung passiert. Wenn du deine wichtigen Punkte aufgeben musst, dann kannst du eben nicht in eine Regierung gehen. Dann ist es auch völlig egal, wer sich wann welche Koalition gewünscht hat.
Wissing: Mich nervt die Frage nicht, aber sie ist problematisch.
watson: Warum?
Wissing: Weil sie von den eigenen Inhalten ablenkt. Wir sind anders als CDU und CSU, weil wir nicht in der Vergangenheit hängenbleiben, sondern das Land in die Zukunft entwickeln wollen. Wir sehen ja nach 16 Jahren CDU/CSU-Führung, wie rückständig konservative Politik sein kann. Andererseits wollen wir die Entscheidungsfreiheit der einzelnen Person schützen – und das trennt uns von der SPD, die kollektivistisch denkt.
watson: Aber viele Wähler würden gerne vorher wissen, welche Koalition sie bekommen können, wenn sie eine Partei wählen.
Wissing: Vor der Wahl muss gelten: Jeder steht für seine Inhalte. Nach der Wahl müssen die Parteien Demut vor dem Willen der Wähler haben und mögliche Bündnisse ausloten, damit eine stabile Regierungsmehrheit zustande kommt. Aber es gibt die klassischen Lager eben nicht mehr so wie früher: Schwarz-Gelb gegen Rot-Grün. Gerade jüngere Menschen sehen das nicht mehr so.
Thiel: Das sehe ich auch so. Bei jeder Wahl entscheidet sich neu, was rauskommt. Und dann sieht man eben, was geht. Wenn es für uns mal mit der Union nicht geht, dann eben nicht. Und bei der SPD ist das auch so. Für mich ist vor allem wichtig, den eigenen Inhalten treu zu bleiben und sie in Koalitionsverhandlungen nicht unter den Tisch fallen zu lassen, nur um in die Regierung zu kommen.
watson: Wie kommst Du mit jungen Politikerinnen und Politikern aus den anderen Parteien klar?
Thiel: Wenn wir die Ränder ganz rechts und ganz links mal ausnehmen, gibt es einen ziemlich großen Common Ground zwischen uns allen. Wir sind uns einig, dass der Wahlkampf fair sein muss und niemand diffamiert werden soll. Klar, wir streiten uns inhaltlich. Aber wir sind sehr bemüht, dass es nie persönlich wird.
watson: Das klingt ziemlich positiv.
Thiel: Ja, zumindest unter jungen Leuten nehme ich das so wahr.
Wissing: Ich finde allgemein, dass dieser Wahlkampf bisher sehr sachlich ist.
watson: Viele Beobachter beklagen sich, es gehe nur um persönliche Angriffe und zu wenig um die Themen.
Wissing: Ich habe schon ganz andere Wahlkämpfe erlebt. Ich habe auch den Eindruck, dass viele Politiker in den sozialen Medien in diesem Jahr etwas sensibler miteinander umgehen. Das war schon deutlich schlimmer.
watson: Welchen Wahlkampf fanden Sie schlimmer?
Wissing: Der vor der Wahl 2013 war wesentlich emotionaler und aggressiver...
watson: ...vor der Wahl, bei der die FDP zum ersten Mal aus dem Bundestag geflogen ist.
Wissing: Damals wurde sehr aggressiv argumentiert und gestritten. Und die Angriffe auf uns waren hart.
watson: Noreen, viele Wähler sehen die FDP als Partei der Besserverdienenden. Deine Mutter ist Frisörin, du versucht mit deiner Ansprache und den Themen, die du behandelst, gegen dieses Image anzukämpfen. Aber eine Auswertung des FDP-Programms, das das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung gemacht hat, zeigt, dass Menschen mit den höchsten Einkommen von den Steuerplänen der FDP deutlich stärker profitieren als Menschen mit geringeren Einkommen. Warum ist das aus deiner Sicht richtig?
Thiel: Uns geht es darum, dass es allen besser geht, dass wir wegkommen von der Neidgesellschaft, in der es heißt: "Ey, der hat mehr als ich, der darf gar nicht so viel haben." Allen soll es gut gehen, jeder soll sich etwas leisten können. Die FDP will alle entlasten – außer Google und Facebook, die sich nicht mehr vor der Steuer drücken sollen. Das muss man immer wieder erwähnen, weil dieses Klischee von der Besserverdienenden-Partei immer wieder aufkommt.
Wissing: Freiheit ist ein Angebot, das sich an alle in der Gesellschaft richtet. Wir wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen ihren Lebensentwurf leben und sich frei entfalten können. Dieses Angebot ist vollkommen einkommensunabhängig.
watson: FDP-Wähler verdienen aber im Durchschnitt besser als die Wähler anderer Parteien...
Wissing: ...aber laut aktuellen Untersuchungen weniger als die Wähler der Grünen. Wir wollen den Menschen Chancen bieten. Wir wollen zum Beispiel einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer für das Eigenheim. Das ist ja nichts für Millionäre, sondern für junge Familien, die eben noch kein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung haben. Wir wollen jungen Menschen eine Hürde aus dem Weg räumen, die Grunderwerbsteuer. Das hilft Menschen mit durchschnittlichen und unterdurchschnittlichen Einkommen.
watson: Wenn alle, wie von der FDP gefordert, weniger Steuern zahlen, hat der Staat aber weniger Geld. Und das kann dazu führen, dass Gemeinden ihr Schwimmbad schließen müssen – was bitter für diejenigen ist, die sich nicht das 20-Euro-Ticket für das Erlebnisbad leisten können. Oder, dass weniger Geld für die öffentlichen Schulen da ist – worunter die Kinder leiden, denen die Eltern keine Privatschule zahlen können.
Thiel: Wir wollen niemanden zurückzulassen. Der Staat muss sich aber selbst fragen, wie aufgebläht er sein muss. Wenn es wirklich schiefläuft, dann hat der Bundestag bald 1000 Abgeordnete. Das muss wirklich nicht sein – das kann aber passieren, weil die Union das Wahlrecht nicht ändern wollte. Und es gibt viele solcher Fragen: Brauchen wir wirklich so viele Beamte? Kann man nicht mehr Prozesse in der Verwaltung digitalisieren? Dadurch könnte man auch Stellen einsparen.
Wissing: Der Staat kann ja auch nicht alles. Die Wirtschaft klimaneutral machen, das kann zum Beispiel nur die Wirtschaft selbst. Dafür müssen Unternehmen Geld investieren. Und da der Staat sich schon mehr als die Hälfte der Einkommen der Menschen als Steuern und Abgaben nimmt, stellt sich eben die Frage: Soll er wirklich noch mehr bekommen? Wir Freie Demokraten lehnen das jedenfalls ab.
watson: Jens Teutrine, der Vorsitzende der FDP-Jugendorganisation Junge Liberale, hat gegenüber watson während des FDP-Parteitags im Mai gesagt: "Ich will nicht sparen im Sozialbereich." Versprechen Sie das auch, Herr Wissing?
Wissing: Unser Sozialstaat sollte uns viel wert sein, aber man muss auch etwas ändern. Zum Beispiel beim Rentensystem, das wir inzwischen mit 106 Milliarden Euro Steuergeld pro Jahr bezuschussen, weil es sich sonst nicht mehr trägt. Das muss reformiert werden, darf aber nicht dazu führen, dass die Leute am Ende weniger Rente erhalten. Wir müssen überlegen, wie wir mehr Geld in das Rentensystem bekommen und dieses effizienter nutzen. Deswegen schlagen wir eine gesetzliche Aktienrente vor.
watson: Noreen, wie oft sagen dir Menschen in deiner Heimatstadt Cottbus oder in deinem Wahlkreis Berlin-Lichtenberg, dass sie Angst haben, die FDP wolle ihnen etwas wegnehmen?
Thiel: Das kommt vor. Aber das kommt eben von den Klischees, die es über die FDP gibt. Ich glaube, wenn du den Menschen unaufgeregt erklärst, dass die FDP ihnen nichts wegnehmen will und es ihnen nicht schlechter gehen wird durch unsere Ideen, sondern im Gegenteil, dann funktioniert das.
watson: Du gehst auf deinen Profilen auf Instagram und Twitter sehr offen mit Anfeindungen um, die du erlebst – und mit sexistischen und extrem beleidigenden Nachrichten, die du bekommst. Warum machst du das?
Thiel: Viele Menschen glauben, du bist unglaublich privilegiert, wenn du irgendwas mit Politik machst. Ich will niemanden abschrecken – aber eben zeigen, dass politische Tätigkeit nicht nur heißt, von einer Location zur anderen zu fahren und viel Schnaps zu trinken. Mal abgesehen davon, dass ich eh' keinen Schnaps trinke. Was ich sagen will: Politik zu machen hat eine Schattenseite, das sollte jeder wissen.
watson: Herr Wissing, was tut die FDP eigentlich, um ihren Kandidaten zu helfen, wenn sie angefeindet werden? Frauen trifft der Hass ja meistens besonders hart.
Wissing: Zentrale Ansprechpartnerin für Betroffene ist unsere FDP-Diversity-Beauftragte. Eine weitere Anlaufstelle im Bund und in den einzelnen Gliederungen sind die Vertrauenspersonen. Sie sind Ansprechpartner, wenn Konflikte bestehen und Grenzen überschritten wurden. Damit haben wir ein Netzwerk, an das man sich wenden kann, wenn so etwas passiert. Wir versuchen, als liberale Familie stark zu sein, wenn wir von außen angegriffen werden. Zudem haben wir uns mit den Generalsekretären und Bundesgeschäftsführern von Union, SPD, Grünen und Linken auf einen gemeinsamen Kodex für einen fairen Wahlkampf verständigt. Wir freuen uns nicht darüber, wenn der Hass jemanden mit einer anderen politischen Farbe trifft, sondern sehen das immer auch als eigenes Problem an.
watson: Der Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke durch einen Neonazi im Jahr 2019 hat drastisch gezeigt, wohin politischer Hass führen kann. Noreen, du stehst ganz am Anfang deiner politischen Karriere. Wie viel Angst machen dir Anfeindungen?
Thiel: Es ist nicht Angst. Es ist ein gesundes Bewusstsein dafür, was passieren kann. Du musst für dich selbst immer wieder entscheiden, wie weit du gehst, was du in manchen Momenten machst oder sagen kannst. Es ist unglaublich, dass man darüber nachdenken muss. Aber es ist einerseits wichtig, sich nicht selbst zu verlieren. Und andererseits musst du auf deine Sicherheit achten, wenn du dich politisch engagierst.
watson: Du gehst auch sehr offen mit deiner Depression um, mit den schwachen Momenten, die du erlebst. Bereust du diese Offenheit manchmal?
Thiel: Nee, gar nicht. Weil ich so offen damit umgehe, haben Menschen in meinem Umfeld ein viel größeres Bewusstsein für das Problem. Und wenn ich sage: "Ey, ich kann heute nicht, ich brauche einen Self-Care-Tag", dann verstehen sie das. In letzter Zeit ist mir das zum Glück nicht so oft passiert. Aber es hat mir gerade in meinem Umfeld sehr geholfen, Verständnis dafür zu haben. Mehr Menschen wissen jetzt, wie diese Krankheit sich äußert – und verstehen, dass wir etwas tun müssen für psychische Gesundheit.
watson: Wie sehen Sie das, Herr Wissing? Für Politiker aus Ihrer Generation wäre es kaum denkbar, so offen mit eigenen psychischen Problemen umzugehen.
Wissing: Ich glaube, früher dachten Politiker stärker, bestimmten Erwartungen entsprechen zu müssen. Aber Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns, dass wir uns nicht verstellen. Das heißt nicht, dass man Privates öffentlich machen muss. Aber man muss auch keine Angst davor haben, es zu tun. Authentisch zu sein, macht Politikerinnen und Politiker nicht schwach, sondern am Ende stark. Viele glauben aber immer noch, dass sie, wenn sie in die Politik gehen, bestimmte Dinge sagen müssen, weil die besonders gut ankommen.
watson: Sie meinen, dass manche als Arbeitstiere rüberkommen wollen und deshalb nicht über Schwächen oder die eigenen Grenzen sprechen.
Wissing: Ja, dass man vorgibt, unendlich leistungsfähig zu sein. Man muss das aber nicht. Man kann auch als Politiker sagen: "Mir ist das gerade zu viel." Ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger es viel ehrlicher finden, wenn jemand menschliche Schwächen zugibt, als wenn sie oder er vorgibt, perfekt oder unfehlbar zu sein.
watson: Andererseits besteht der Alltag vieler Abgeordneter aus Wochen mit 70-80 Arbeitsstunden, von Ministern ganz zu schweigen. Ist Spitzenpolitik überhaupt möglich ohne diesen krassen Arbeitsrhythmus und die entsprechende psychische Belastung?
Wissing: Es gibt in der Politik Zeiten, in denen man so hart arbeiten muss, dass man an körperliche Grenzen kommt. Wer Abgeordneter oder Ministerin wird, bekommt die Kompetenz übertragen, Entscheidungen im Interesse aller Bürger zu treffen. Wer diese Verantwortung trägt, der kann eben schwer sagen, ich habe jetzt acht Stunden gearbeitet, jetzt geht es nicht mehr. Das bedeutet, dass man private Opfer bringen muss.
watson: Was war das bei Ihnen?
Wissing: Das größte Opfer, das die meisten Politikerinnen und Politiker bringen müssen, ist wenig Zeit für die Familie zu haben. Man verpasst so bestimmte Momente zum Beispiel im Leben seiner Kinder, die unwiederbringlich sind – und wenn einem das so richtig bewusst wird, ist es zu spät. Da hinterfragt man sich dann auch schon einmal, ob man immer die richtigen Prioritäten gesetzt hat.
watson: Was kann man in einem hohen politischen Amt dann überhaupt für die eigene psychische Gesundheit tun?
Wissing: Wer länger in der Politik bleibt, muss lernen, zu delegieren. Und auch mal Nein zu sagen.
watson: Wie blickst du auf diese Aussicht, Noreen? Auf die extreme Arbeitsbelastung, die dich wohl als Bundestagsabgeordnete erwarten würde?
Thiel: Dass Politiker keine Acht-Stunden-Tage haben und dass der Job unglaublich belastend sein kann, ist ja bekannt. Das habe ich auch nie schlecht gefunden. Ich arbeite gerne. Aber so, wie sich auch jemand mit einer schweren Erkältung krankmeldet, sollte auch jemand, der drei Wochen lang immer 60 bis 80 Stunden gearbeitet hat, eine Pause einlegen. Und wer dir das nicht verzeihen kann, dem sage ich: Check your attitude.
watson: Die FDP hat ein Problem, das sie offensichtlich nicht in den Griff bekommt: ihren niedrigen Frauenanteil. Nur 22,5 Prozent Frauen in der Bundestagsfraktion, nur ein Viertel des Präsidiums der Partei sind Frauen. Noreen, warum kriegt deine Partei das nicht besser hin?
Thiel: Das ist eine hervorragende Frage. Keine Ahnung. Du kannst niemanden zwingen, in eine Partei einzutreten – und schon gar nicht dazu, ein Amt zu übernehmen. Man bekommt Menschen nur dazu, indem man sie überzeugt. Und da hat sich nach meinem Eindruck in der FDP sehr viel verbessert. Die FDP möchte ja eine moderne, zukunftsgewandte Partei sein. Und der gesellschaftliche Trend geht dahin, dass man mehr Diversität von der FDP erwartet: mehr Menschen mit Migrationsgeschichte, mehr junge Menschen, mehr Frauen. Wenn die FDP irgendwann nicht abgeschlagen sein möchte, dann müssen wir das hinbekommen.
Wissing: Die meisten Parteien haben das mit einer Quote gelöst. Für die FDP ist das aber kein attraktives Angebot. Wir stehen für einen Staat, der auf Freiheit und Verantwortung setzt – da können wir unsere eigenen Angelegenheiten nicht durch Zwang lösen, also müssen wir auf andere Weise aktiv werden.
watson: Und wie wollen Sie das Problem als FDP-Generalsekretär lösen?
Wissing: Als ich 2011 Landeschef in Rheinland-Pfalz wurde, habe ich der Landespartei gesagt: "Bei allen Vorschlägen für den Landesvorstand stehen wir in der Verantwortung, dass so viele Frauen wie Männer dabei sind."
watson: Sie wollen also keine Frauenquote im Parteistatut, haben aber als FDP-Landeschef selbst eine Quote vorgegeben?
Wissing: Ich habe es so formuliert: Wer keine Quote will, der muss beweisen, dass man sie nicht braucht. Das Ergebnis ist, dass wir in Rheinland-Pfalz inzwischen unsere Wahllisten faktisch paritätisch besetzen: Wir haben vier FDP-Abgeordnete aus dem Land im Bundestag, zwei Männer, zwei Frauen. Auf unseren Listen für Landtag und Bundestag stehen vorne gleichviel Frauen und Männer. Meine Nachfolgerin im Wirtschaftsministerium in Mainz ist eine Frau, deren Nachfolgerin als Staatssekretärin ist auch eine Frau.
watson: Das bekommt außerhalb von Rheinland-Pfalz aber fast niemand mit. Wer die Bundespolitik verfolgt, sieht: Volker Wissing ist 2020 FDP-Generalsekretär an Stelle einer Frau geworden. Statt Linda Teuteberg.
Wissing: Das passt nun wirklich nicht in die Reihe. Es gibt das Amt nur einmal, die Funktion können Sie also nicht paritätisch besetzen. Christian Linder hat ein ganz bestimmtes Profil gesucht für diese Aufgabe: jemanden, zu dem er ein enges Vertrauensverhältnis hat, der Regierungserfahrung und Wirtschaftskompetenz mitbringt. Dem habe ich entsprochen. Das hatte nichts mit meinem Geschlecht zu tun.
watson: Okay, aber was tun Sie jetzt auf Bundesebene für Gleichberechtigung?
Wissing: Wir haben im Präsidium dafür gesorgt, dass starke Frauen hinzugekommen sind. Wir haben in Sachsen-Anhalt voraussichtlich bald mit Lydia Hüskens eine Ministerin in der Landesregierung. Das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer Wende in der Parteiführung. Ich finde, es ist eine Stärke der FDP, dass die Partei den Mut hat, diesen schwierigeren Weg zu gehen, ohne Quote. Wohin eine solche führen kann, hat man jetzt bei den Grünen gesehen, mit dem Streit um die Landesliste im Saarland – der am Ende dazu geführt hat, dass die Grünen nicht auf dem Wahlzettel für die Bundestagswahl stehen und sie im Saarland niemand wählen kann.
watson: Noreen, wie viel Geduld hast du bei dem Thema mit deiner Partei?
Thiel: Nicht jeder FDP-Landesverband macht es wie der in Rheinland-Pfalz – aber das ist doch a way to go. Der gesellschaftliche Trend entwickelt sich in Richtung Gleichberechtigung. Und wer nicht jedesmal weggeshitstormt werden will, wenn er eine Wahlliste oder ein Gruppenfoto veröffentlicht, der muss das Thema einfach angehen. Ich finde das voll in Ordnung.