Es ist ein Jahrestag des Schreckens.
Ein Jahrestag, der Menschen mit Migrationsgeschichte – oder jene, die als solche wahrgenommen werden – ganz besonders trifft.
Vor zehn Jahren, am 4. November 2011, endete eine jahrelange, Serie rassistisch motivierter Terroranschläge. Mit zwei Schüssen, einem Brand und einer Explosion war der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund, der NSU, Geschichte.
Viele Betroffene dieser Taten zweifeln seither am Rechtsstaat.
Der NSU, dessen Hauptpersonen die drei Terroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe waren und sind, ermordete zwischen 2000 und 2007 neun Menschen mit Migrationsgeschichte und eine Polizistin. 43 Mordversuche stehen in den Akten zum NSU-Terror, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle kommen hinzu.
Eine vollkommene Aufklärung gibt es bis heute nicht.
Vor zehn Jahren also nahmen sich Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall vermutlich das Leben. Beate Zschäpe verschickte DVDs mit einem Bekennervideo des NSU, steckte die gemeinsame Wohnung im sächsischen Zwickau in Brand und flüchtete ziellos durch Deutschland – mit dem Zug. Bis sie sich stellte.
Wie blicken Menschen, die von Rassismus bedroht sind, auf diesen Tag? Menschen, die oft und vor allem von Rassisten als "nicht deutsch" gelesen werden? Das hat watson Abgeordnete des Deutschen Bundestag gefragt.
"Als migrantisch gelesene Person blicke ich mit anderen Gefühlen auf den 10. Jahrestag der Selbstenttarnung der NSU-Terrorzelle, als die meisten Bürgerinnen und Bürger in diesem Land", schreibt die CDU-Politikerin Serap Güler auf watson-Anfrage. Seit Oktober 2021 sitzt sie im Deutschen Bundestag. Davor war sie Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Nordrhein-Westfalen.
"Zu der allgemeinen Fassungslosigkeit angesichts hasserfüllter und rassistischer Taten kommt eine sehr persönliche Betroffenheit hinzu", schreibt Güler. "Selbst zwei Untersuchungsausschüsse im Deutschen Bundestag konnten nicht zweifelsfrei beantworten, nach welchen Motiven die Opfer ausgewählt wurden", kritisiert sie.
Und weiter: "Warum gerade diese Opfer? Hätte auch ich oder ein Familienmitglied dieser Wahllosigkeit zum Opfer fallen können? Die Bedrohung wird für mich durch solche Aspekte sehr real."
Doch es sind nicht nur negative Gefühle. Güler sei auch dankbar, der Rechtsstaat und Zivilgesellschaft hätten ihr Mögliches zur Aufklärung der Fälle beigetragen. Die sachliche Auseinandersetzung mit den Tätern und ihren Taten in einer Vielzahl von Untersuchungsausschüssen – sowohl im Bundestag als auch in den Landtagen – habe das Chaos ein wenig ordnen können.
Auch die Aufarbeitung durch die Justiz habe einen gewissen Grad an Frieden gebracht – Täter hätten benannt und die Frage der Schuld habe geklärt werden können, so Güler. Sie nehme zudem die Bemühungen der Zivilgesellschaft wahr: in Medien, Büchern und Filmen. Hier seien die Geschehnisse verarbeitet worden. "So werden sie im kollektiven Gedächtnis verankert."
Aber wurden Lehren aus den Taten und aus dem Umgang damit gezogen? Güler sagt:
"In Deutschland sterben durch rechtsextremistischen Terror mehr Menschen als durch jede andere Form von Extremismus." Das sagt Hakan Demir. Der SPD-Politiker sitzt seit dieser Wahl im Bundestag, gewann für seinen Wahlkreis in Berlin-Neukölln sogar das Direktmandat. Im Umgang mit dem NSU, sagt der 36-Jährige, seien gravierende Fehler passiert, die auch das Resultat von strukturellem Rassismus seien.
"Wir müssen die Gefahr von rechts stärker thematisieren und ernst nehmen. Wir brauchen die Erinnerung, um die notwendigen Schritte zu Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen gehen zu können", sagt er auf watson-Anfrage.
Wie viele andere, so schreibt es Demir auf seiner Website, ist sein Großvater durch das sogenannte deutsch-türkische "Anwerbeabkommen" nach Deutschland gekommen. Dieses Abkommen von 1961 war eine Vereinbarung zwischen dem Auswärtigen Amt – damals noch in Bonn – und der türkischen Botschaft. Darin war die Entsendung von Arbeitskräften aus der Türkei nach Deutschland geregelt.
Demir schreibt, sein Großvater habe jahrelang auf Baustellen gearbeitet, Straßen und Wohnungen gebaut, um seiner Familie eine bessere Zukunft zu ermöglichen. "Ibrahim Demir war immer dankbar dafür, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein, und ich bin es heute auch."
Doch die Mordserie des NSU hinterlässt Spuren. Und Demir stellt Forderungen: "Ich erwarte von allen demokratischen Parteien, dass sie sich Hass und Hetze entschlossen entgegenstellen."
Melis Sekmen blickt nachdenklich auf diesen schweren Jahrestag – und auch auf die vergangen zehn Jahre seit der Selbstenttarnung der NSU. "Es war die längste rechtsterroristische Mordserie in der Geschichte der Bundesrepublik und es waren am Anfang die Hinterbliebenen, die kriminalisiert wurden."
Tatsächlich hatte der größte Teil der Ermittler lange Zeit immer im familiären Umfeld der NSU-Opfer nach den Tätern gesucht – und Angehörige der Toten teilweise kriminalisiert.
"Über 13 Jahre hinweg konnte das NSU-Trio unentdeckt morden, bis heute ist das Unterstützernetz noch immer nicht hinlänglich offengelegt", kritisiert die 28-Jährige, die seit der Wahl 2021 für die Grünen im Bundestag sitzt. Und sie sagt: "Zehn Jahre später müssen wir uns fragen, ob wirklich alles dafür getan wurde, die Morde aufzudecken."
Auch Sekmen stammt eigenen Angaben zufolge aus einer "klassischen Gastarbeiterfamilie" – so steht es auf ihrer Website. "Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als kleines Mädchen oft meinen Vater am Werkstor nach seiner Frühschicht abgeholt habe."
Die versprochene vollständige Aufarbeitung des NSU-Komplexes, sagt sie gegenüber watson, sei bis heute nicht abgeschlossen. Noch immer bestehe keine volle Transparenz bezüglich der Untersuchungen. Allerdings sieht Sekmen auch das Positive: "Das Bewusstsein in der Gesellschaft hat sich aber in den letzten Jahren verändert, das Bewusstsein dafür, wie wichtig es ist, dass den Angehörigen Gehör geschenkt wird."
Auch Sekmen denkt darüber nach, dass diese traurige Schreckensgeschichte um den NSU auch sie hätte treffen können. "Das Politische ist das eine", sagt sie. "Aber der Gedanke, dass es auch Menschen aus meinem eigenen Umfeld oder meiner Familie hätte treffen können, lässt einen nochmal anders darauf blicken. Dies stimmt mich auch heute noch sehr nachdenklich."
Und Sekmen fordert:
Muhanad Al-Halak kam 2001 als Elfjähriger aus dem Irak nach Niederbayern. Der FDP-Politiker gehört zu den 20 Prozent der Bundestagsabgeordneten ohne akademische Ausbildung. Der Lokalzeitung "Passauer Neue Presse" gab er im September dieses Jahres ein Interview. Der prägendste Satz: "Der Mensch fängt nicht erst beim Akademiker an!“
Al-Hanak gehört zu jenen Menschen, die eben als "nicht deutsch" gelesen werden könnten. Er sagt: "Der Fall des NSU zeigte, wie eine rassistische Terrorzelle jahrelang in Deutschland morden konnte."
Nach 10 Jahren sei es immer noch schwer für die Polizei und Justiz, rassistische Straftaten und Motive überhaupt zu erkennen, sagt der 32-Jährige auf Anfrage von watson. Und er meint: "Die lückenlose Aufklärung durch die Bundesregierung blieb bis heute offen, obwohl der NSU kein Einzelfall war. Ich wünsche mir mehr Konsequenzen für staatliche Institutionen, um solche Taten in Zukunft zu verhindern."