Montagabend, mein Handy klingelt. Es ist mein Vater, ich gehe ran. "Putin wird gleich eine Ansprache im Fernsehen halten. Er wird Donezk und Luhansk für unabhängig erklären. Das haben sie gerade im russischen Fernsehen gesagt", erklärt er mir. Dann vibriert auch schon mein Handy, all die Eilmeldungen trudeln ein.
Jetzt ist es auch in den deutschen Medien angekommen.
Ich suche einen Stream zu irgendeinem russischen Sender. Keine zehn Minuten später geht Putins irres Gerede auch schon los. Mit seiner Erzählung fängt er gefühlt beim Urknall an. Zumindest bei der Zeit, als Russland noch eine "Großmacht" war.
Ich bin schwer genervt, er soll endlich zum Punkt kommen. Neben all dem Wahnsinn in seinen Worten, höre ich aber auch den beleidigten Putin heraus. Den kleinen Jungen, den man nicht hat mitspielen lassen – in der Nato. Und wer ihn nicht mitspielen lässt, der muss auch die Konsequenzen tragen.
Und dann, endlich spricht er es aus: Diese "notwendige" und "längst überfällige Entscheidung", wie er es selbst nennt. Die Gebiete, die von durch Russland finanzierte Separatisten besetzt sind, werden von Putin zu "Volksrepubliken" ernannt – auf angeblich langes Bitten der Menschen dort. Und schließlich wird auch die Unterschrift, die das Chaos besiegelt, im Fernsehen übertragen.
Und genau in diesem Moment vibriert mein Handy wieder.
Dieses Mal ist es meine Mutter: "Hurra, unterschrieben. Ich glaube, die Leute dort freuen sich sehr", lese ich. Ich will darauf nichts antworten, muss zuerst selbst überlegen, was das eigentlich für uns bedeutet. Für die Ukraine, für Russland, für Deutschland, Europa, ja die ganze Welt.
Erst am nächsten Morgen schreibe ich ihr zurück: "Abwarten." Mehr kann ich auf diesen Wahnsinn nicht antworten, ich habe auch keine Zeit, mich mit meiner Familie und diesen Ansichten auseinanderzusetzen.
"Mit links hat er vier Millionen Menschen gerettet", antwortet sie darauf. Dann packt mich doch die Wut.
Gerettet ... ahja!
Ich weiß, dass auch mein Vater – und viele, viele andere in meiner Familie so darüber denken. Fast alle davon leben in Deutschland. Wie kann es sein, dass man im Westen lebt und doch so eine Meinung über Putin und das, was er da gerade getan hat, gerade tut, vertritt? Ich weiß, dass es nicht mangelnde Intelligenz ist, ich kenne diese Menschen. Seit meiner Geburt. Also was ist es dann?
Ein bis zwei Tage später telefoniere ich mit meinem Vater. Zu diesem Zeitpunkt sind die russischen Truppen noch nicht in die Ukraine einmarschiert. Es gab auch noch keine Angriffe in Kiew. Ich versuche, zu verstehen, was er sieht, was er versteht. Versuche, mit ihm darüber zu reden. Doch keine Chance, es endet im Streit.
Er schaue sich die deutschen Nachrichten an. Was dort gesagt wird, seien alles Fehlinformationen. Gesteuert durch Lügen, die die USA der ganzen Welt auftische. "Wenn Amerikaner irgendwo einmarschieren, dann ist das immer für den Frieden? Aber wenn Russland auch nur einen Mucks macht, dann geht die ganze Welt dagegen", sagt er.
Ich hingegen versuche, ihm zu erklären, dass es für mich in diesem Moment nicht darum geht, was die USA macht. Es ist klassischer Whataboutism, was gerade in diesem Gespräch passiert. Ein rhetorisches Ablenkungsmanöver.
Aber irgendwie verstehe ich meinen Vater – auf eine gewisse Art. Es ist die Wut und die Enttäuschung, die aus ihm spricht. Auch ich bin manchmal wütend, wenn ich höre, wie über Russland gesprochen wird. Russland ist nicht Putin, doch das wird oft gleichgesetzt. Seit über 20 Jahren leben wir mittlerweile in Deutschland – und trotzdem fühlen wir uns manchmal nicht verstanden. Meine Eltern sogar noch deutlich öfter als ich.
Und: Natürlich ist es einfacher, Nachrichten in der Muttersprache zu konsumieren – wie es meine Eltern eben tun. Schwierig wird es nur, wenn diese Medien gerade Propaganda verbreiten.
Ich bin nicht die Einzige, die diese Diskussionen mit ihren Eltern führt. Viele junge Russland-Deutsche, die größtenteils hier aufgewachsen sind, kennen das nur zu gut. Eine fehlgeschlagene Integrationspolitik, die dafür sorgte, dass russisch-stämmige Menschen sich nicht willkommen fühlten, geschweige denn einigermaßen verstanden wurden.
Ein Problem, das in den 70ern bei türkischen Gastarbeitern begann, mit den Russen weiterging und mit der Flüchtlingskrise seit 2015 fortgeführt wird. Es gibt viele hier lebende Russen und Türken, die mit der Politik ihres Heimatlandes sympathisieren – und eine Art Stolz gegenüber ihrer Nationalität empfinden.
Seit den Angriffen auf Kiew und viele andere Städte in der Ukraine habe ich nicht mehr mit meinen Eltern gesprochen. Ehrlich gesagt auch aus Angst, es könnte eskalieren.
Ich glaube nicht, dass ich etwas an der Meinung meines Vaters ändern kann. Ich sei "zu jung", "zu naiv" und werde, wenn ich selbst mal "erwachsen" bin, verstehen, was er meint, so seine Argumentation.
Ich hingegen glaube, dass ich mit 30 Jahren sehr wohl in der Lage bin, zu verstehen, was hier gerade passiert – aber auch, warum er und viele andere Russland-Deutsche so frustriert sind.
Hinter jeder Katastrophe stecken eigene Geschichten. Wir lassen sie von denen erzählen, die sie erleben.