
Die GHF-Verteilsstellen für humanitäre Güter in Gaza sind lebensgefährlich.Bild: AP / Abdel Kareem Hana
International
Ärzte ohne Grenzen zeigt die Gräueltaten der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) auf. Die Organisation berichtet von systematischen Tötungen und fordert ein sofortiges Ende des Systems.
07.08.2025, 17:2407.08.2025, 17:24
Videos mit schweren Vorwürfen aus Gaza kursieren bereits seit Monaten: Clips, in denen Menschen voller Verzweiflung in die Kamera sprechen und erzählen, dass Familienangehörige bei den Verteilstellen der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) getötet wurden. Dort, wo sie sich erhofften, Güter zum Überleben zu bekommen, fanden sie den Tod. Andere berichten von Entführungen und anschließender Folterung.
Im Gazastreifen herrscht blanke Verzweiflung angesichts dieser Grausamkeit und Täuschung.
Nur langsam rückte das Thema auch in der breiten Öffentlichkeit ins Blickfeld. Zu schwierig war es, diese Informationen zweifelsfrei zu verifizieren. Seit unabhängige Hilfsorganisationen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestätigen, die sich an den GHF-Verteilzentren abspielen sollen, hat sich das geändert.
Ärzte ohne Grenzen (MSF) hat das Vorgehen der GHF akribisch dokumentiert und nun in einem Bericht veröffentlicht. Er zeichnet ein Bild "orchestrierter Tötungen" und anderer entmenschlichender Grausamkeiten. Die internationale Hilfsorganisation fordert jetzt die sofortige Auflösung der GHF und warnt eindringlich vor einem System, das zivile Not gezielt missbraucht.
Ärzte ohne Grenzen: GHF in Gaza als "militarisiertes System" der Gewalt
In dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht mit dem Titel "This is not aid. This is orchestrated killing" dokumentiert Ärzte ohne Grenzen medizinische Daten, Patient:innenberichte und Beobachtungen aus erster Hand. Alles im Zusammenhang mit der angeblichen Hilfsorganisation Gaza Humanitarian Foundation (GHF).
Die Stiftung GHF wurde im Mai 2025 von israelischer und US-amerikanischer Seite eingerichtet, nachdem Israel begonnen hatte, das UN-Hilfssystem in Gaza abzubauen. Sie sollte Hilfsgüter effizienter verteilen, so lautet zumindest die offizielle Begründung.
Tatsächlich aber sei daraus ein "militarisiertes System" entstanden, das humanitäre Hilfe zur Waffe mache, so die Einschätzung von Ärzte ohne Grenzen.
Demnach ist die Stiftung Teil einer Tötungsstrategie. Nicht nur, dass die Menschen in Gaza bewusst ausgehungert werden. Palästinenser:innen, darunter Kinder, werden beim Versuch, Nahrungsmittel zu ergattern, gezielt angeschossen oder in Massenpaniken verletzt.
Laut Bericht sind 96 Prozent der verletzten und getöteten Personen junge Männer, fast alle zwischen 20 und 30 Jahren. Alle vier Verteilstellen liegen in Arealen, die vollständig vom israelischen Militär kontrolliert werden. Gesichert werden sie zusätzlich von bewaffneten privaten US-Sicherheitskräften.

Wer an GHF-Verteilzentren unversehrt etwas bekommt, hat Glück.Bild: imago images / UPI Photo
MSF: GHF-Verteilzentren ein "Laboratorium der Grausamkeit"
Allein zwischen dem 7. Juni und dem 24. Juli 2025 behandelten zwei Gesundheitszentren von Ärzte ohne Grenzen in al-Mawasi und al-Attar insgesamt 1380 Verletzte aus dem Umfeld der GHF-Verteilzentren. Darunter waren 28 Personen, die bereits tot eingeliefert wurden. Die beiden Kliniken müssen mittlerweile regelmäßig Leichensäcke im Zweiwochenrhythmus bestellen.
In den sieben Wochen wurden 71 Kinder mit Schussverletzungen behandelt, davon 25 unter 15 Jahren. Davon wurden laut MSF 41 Kinder direkt an oder nahe den GHF-Verteilzentren angeschossen. Ein zwölfjähriger Junge kam mit einer Schussverletzung im Bauch allein in die Klinik. Ein achtjähriges Mädchen wurde in der Brust getroffen.
Beide hatten laut Bericht versucht, an einer Verteilungsstelle Nahrungsmittel zu holen. "Das sind Kinder, denen beim Griff nach Lebensmitteln in die Brust geschossen wurde. Menschen, die in der Panik erdrückt oder erstickt wurden. Ganze Menschenmengen, die an Verteilungsstellen niedergeschossen wurden", sagt Raquel Ayora, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Spanien.
Die NGO analysierte die Schusswunden der Patient:innen, wobei sich ein klares Muster zeigte. In al-Mawasi betrafen elf Prozent Kopf und Hals, 19 Prozent Brust, Rücken oder Bauch. In Chan Junis waren häufig Beine betroffen. MSF schließt daraus auf gezielte Treffer in sensiblen Körperregionen. "Die GHF-Verteilzentren, die sich als Hilfe tarnen, haben sich in ein Laboratorium der Grausamkeit verwandelt", sagt Ayora.
Gewalt und Chaos: Massenpanik, Übergriffe und nicht-tödliche Waffen
Hinzu kommen Verletzungen durch das Chaos an den Verteilstellen: Massenpanik, Atemnot, Gewalt untereinander, Plünderungen und Übergriffe. In einem Fall wurde ein fünfjähriger Junge mit Schädeltrauma eingeliefert, eine Frau vermutlich nach einem Erstickungsunfall.
Das medizinische Personal von MSF sieht sich gezwungen, neue Kürzel in seine Patientenakten einzuführen: BBO – Beaten by Others – für Menschen, die nicht durch Beschuss, sondern durch Übergriffe in der Menge oder beim Verlassen der Verteilstellen verletzt wurden.
Auch der Einsatz sogenannter nicht tödlicher Mittel wird dokumentiert. Mehrere Menschen kamen mit verätzten Augen in die Klinik, verursacht durch Pfefferspray aus kurzer Distanz. In einem Fall war der Sprühnebel gezielt gegen den Intimbereich gerichtet.
"Menschen werden wie Tiere erschossen"
Was Ärzte ohne Grenzen beschreibt, ist keine Eskalation einzelner Situationen, sondern ein strukturelles Muster.
Ein medizinischer Koordinator wird im Bericht so zitiert: "Ich habe in vielen Kriegsgebieten und bewaffneten Konflikten mit Ärzte ohne Grenzen gearbeitet, aber ich habe noch nie so etwas gesehen."
Er sei darauf vorbereitet gewesen, Kriegsverletzte zu behandeln, Verletzungen durch Explosionen oder Beschuss. Aber nicht darauf: "Menschen werden wie Tiere erschossen. Sie sind nicht bewaffnet. Sie sind keine Soldaten. Es sind Zivilist:innen mit Plastiktüten, die hoffen, etwas Mehl oder Pasta mit nach Hause zu bringen."
Eine MSF-Quelle schildert die Gewalt sogar so: "Manchmal stehen dort zwei Millionen Menschen um fünf Paletten Nahrung. Man greift sich eine Dose Bohnen, dann kommt das Feuer plötzlich aus allen Richtungen. Man weiß nicht mal mehr, woher die Kugeln kommen."
Forderung von MSF: Sofortige Auflösung der GHF
Ärzte ohne Grenzen fordert die sofortige Beendigung des gesamten GHF-Verteilmechanismus. Die Organisation ruft Regierungen, insbesondere die der Vereinigten Staaten, sowie private Geldgeber:innen dazu auf, jede politische und finanzielle Unterstützung für die GHF einzustellen.
Stattdessen müsse der von den Vereinten Nationen koordinierte humanitäre Hilfsmechanismus wiederhergestellt werden. Zivilist:innen in Gaza sollten auf sichere, würdige und unabhängige Weise Hilfe bekommen.
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