Der Krieg in der Ukraine hat unzählige Leben zerstört und das Land in eine tiefe Krise gestürzt. Doch neben den offensichtlichen Folgen des Konflikts grassiert eine weitere Gefahr in der Ukraine: die wachsende Abhängigkeit von opioidhaltigen Schmerzmitteln.
Besonders das Opioid Nalbuphin wird in der Ukraine zunehmend zum Problem. Es gilt als vergleichsweise leicht zugänglich und wird sowohl von Soldaten als auch von der Zivilbevölkerung immer häufiger konsumiert. Expert:innen warnen: Die Ukraine könnte in eine Opioidkrise geraten – ähnlich jener, wie sie die USA bereits erleben.
Obwohl Studien darauf hinweisen, dass Nalbuphin ein geringeres Abhängigkeitspotenzial hat als andere Opioide, berichten Mediziner:innen von einer zunehmenden Suchtgefahr.
Im Gegensatz zu anderen opioidhaltigen Schmerzmitteln unterliegt Nalbuphin in der Ukraine keiner strengen Kontrolle. Es kann mit einem regulären Rezept erworben werden, wie das ukrainische Medium "Suspilne Nowini" berichtet. Ganz anders als in Deutschland: Hierzulande unterliegt Nalbuphin strengeren Kontrollen, ist als verschreibungspflichtiges Medikament eingestuft und seine Anwendung wird sorgfältig überwacht.
Bis 2017 war es in der Ukraine sogar in Militärapotheken erhältlich, wurde dann jedoch aus den Erste-Hilfe-Kits des Militärs entfernt, um Missbrauch und Abhängigkeit zu reduzieren. Während des Ukraine-Kriegs ab 2022 tauchte es jedoch wieder verstärkt im Militär auf – teilweise über Freiwillige geliefert oder für Gesundheitsposten bestellt.
Der Konsum von Nalbuphin ist dem Bericht zufolge aktuell weit verbreitet. Die Zahl der Rezepte für Nalbuphin in der Ukraine ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen: von etwas mehr als 3000 im Jahr 2023 auf bereits 7000 im November 2024.
"Meiner Erfahrung nach hat in den Jahren 2022 und 2023 ein Viertel der Patienten, die in die Unterbringungsstationen kamen, in den vorangegangenen Phasen Nalbuphin erhalten", sagt Militärarzt Andriy Semyankiv zu "Suspilne Nowini": Oft hätten sie vor Schmerzen geschrien, weil das Medikament bei schweren Verletzungen kaum linderte. Abhängig waren sie trotzdem.
Das ukrainische Zentrum für öffentliche Gesundheit warnt demnach ebenfalls: Das Militär sei besonders gefährdet. Der ständige Stress, chronische Schmerzen und fehlende psychologische Betreuung führten dazu, dass viele auf Schmerzmittel angewiesen sind.
Igor, ein ehemaliger Soldat, beschreibt seine Suchterfahrung dem Medium so: "2015 hatte jeder in unserer Einheit eine Spritze mit Nalbuphin im Erste-Hilfe-Kasten." Nach einem schweren Angriff habe er es zum ersten Mal genommen – und seine Kopfschmerzen verschwanden sofort. Doch er begann, sich regelmäßig Spritzen zu setzen. Als der Vorrat ausging, wurde er krank.
"Nach meiner Entlassung aus der Armee konnte ich ohne das Medikament nicht mehr funktionieren", berichtet Igor. Schließlich verlor er seinen Job und begann zu stehlen, um seine Sucht zu finanzieren. Nach mehreren Diebstahlsdelikten landete er im Gefängnis. Heute nimmt er an einem Substitutionstherapieprogramm teil und erhält kontrolliert Methadon.
Sein Arzt, der Narkologe Andriy Korets, erklärt dem Medium: "Fast alle nehmen Nalbuphin". Der Grund: Ihnen werde das Medikament regulär verschrieben. Erst später merkten die Menschen, dass sie nicht mehr ohne auskommen.
Tatsächlich war es eine ähnliche Situation, die in den USA zur Opioid-Krise führte: Das vermeintlich harmlose Schmerzmittel OxyContin wurde in den 1990er-Jahren in großem Stil verschrieben und führte zu einer Welle der Abhängigkeit.
Laut der Psychologin Maria Nazarova ist das Problem jedoch nicht nur die Verfügbarkeit des Medikaments, sondern auch die mangelnde Schulung der Ärzt:innen. "Obwohl es Hunderte alternativer Rezepte gibt und in der humanitären Hilfe für Krebspatienten so viel Paracetamol und Tramadol enthalten ist, verschreiben manche Ärzte Nalbuphin."
Einige Krankenhäuser beginnen nun, Nalbuphin aus ihrem Bestand zu streichen. Der Anästhesist Andriy Khomenko arbeitet in einem Kiewer Krankenhaus und sagt: "Wir setzen vermehrt auf Regionalanästhesie und alternative Schmerztherapien, um die Abhängigkeit von Opioiden zu reduzieren." Doch für viele Soldaten und Zivilist:innen kommt diese Wende zu spät.