Die ukrainische Armee steht nicht nur vor der Herausforderung, einen zahlenmäßig überlegenen Feind abzuwehren, sondern auch vor internen strukturellen Problemen, die ihre Kampfkraft erheblich beeinträchtigen.
Eines der größten Hindernisse ist eine veraltete, oft noch sowjetisch geprägte Befehlskultur, die sich in unrealistischen Befehlen, geschönten Berichten und mangelnder Rücksicht auf die Verluste der eigenen Soldaten zeigt.
Der "Kyiv Independent" hat mit mehreren ukrainischen Soldaten und Kommandeuren gesprochen. Demnach ist es in vielen Einheiten ist es gängige Praxis, offizielle Berichte zu verfälschen. Soldaten, die krank oder erschöpft sind, werden dennoch als kampffähig gemeldet, um Vorgesetzten bessere Zahlen zu präsentieren. Kommandeure, die sich gegen diese Praxis wehren, werden oft bestraft.
Besonders im Fokus steht dabei Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj, den Präsident Wolodymyr Selenskyj im Februar 2024 als Nachfolger des populären Walerij Saluschnyj einsetzte. Syrskyj wird nachgesagt, einen "sowjetisch geprägten" Führungsstil zu verfolgen und das Leben seiner Soldaten weniger wertzuschätzen.
"Kyiv Independent" sprach mit neun Kommandeuren verschiedener Brigaden, die von systematischen Problemen berichten: falsche Meldungen, Schuldzuweisungen und eine Fixierung auf das Halten von Positionen auf Kosten von Menschenleben. Die Zeitung bat den ukrainischen Generalstab um eine Stellungnahme, doch bis zur Veröffentlichung lag keine Antwort vor.
Ein besonders gravierendes Problem, das aus der "sowjetischen Mentalität" resultiert, ist etwa die falsche Berichterstattung innerhalb der Befehlskette.
Niedergeordnete Offiziere melden oft nicht sofort, wenn eine Stellung verloren geht – aus Angst vor der Reaktion der Vorgesetzten. Dadurch geraten benachbarte Einheiten unvorbereitet unter Beschuss, und Verstärkungen oder geordnete Rückzüge verzögern sich. Russland nutzt diese Schwächen gezielt aus, um schwache Punkte in der ukrainischen Verteidigungslinie anzugreifen.
Dieses Phänomen ist eng mit der Praxis des geschönten Berichtswesens verbunden. Kommandeur Krotevych erinnert sich an eine Situation Mitte 2024, als seine Einheit eine Stellung aufgrund massiven Artilleriebeschusses aufgeben musste. Als er den Verlust an einen übergeordneten Offizier meldete, erhielt er eine überraschende Antwort: Er solle den Bericht nicht sofort einreichen, sondern erst einige Tage später.
Der Grund? In dem Operationsgebiet seiner Einheit waren bereits 25 Stellungen verloren gegangen – in einem benachbarten Sektor nur 20. Ein schlechteres Abschneiden hätte für den zuständigen Offizier negative Konsequenzen haben können.
Veter, ein erfahrener Kompaniechef, warnte wiederholt davor, dass ein Großteil seiner Soldaten körperlich nicht mehr für den Fronteinsatz geeignet sei. Doch statt Gehör zu finden, wurde er für zwei Monate in eine Schulung geschickt – und seine Einheit aufgelöst.
Die Angst vor Verantwortung zieht sich durch alle Befehlsebenen. Kommandeure scheuen sich, schlechte Nachrichten nach oben zu melden, da sie für Verluste zur Rechenschaft gezogen werden könnten. So kam es vor, dass Offiziere warteten, bis andere Einheiten ebenfalls Stellungen verloren, um nicht als alleinige Versager dazustehen.
Neben dem Krieg gegen Russland kämpft die Ukraine auch mit sich selbst – gegen überholte Strukturen, eine ineffiziente Befehlskultur und den Missbrauch von Macht.
Ein Kommandeur fasst das Problem wie folgt zusammen: "Die meisten ukrainischen Soldaten sind bereit, ihr Leben für ihr Land zu geben", sagt Oberstleutnant Bohdan Krotewytsch. "Aber sie wollen wissen, dass ihr Opfer nicht umsonst ist. Dieses Vertrauen muss von der militärischen Führung ausgehen. Wenn die Soldaten der Führung nicht vertrauen, dann liegt das Problem nicht bei den Soldaten."