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Ukraine-Krieg und Zivilgefangene: Russland-Terror in besetzten Gebieten

Im Mai 2023 verschleppte Russland den Mann von Liusiena Zinovkina.
Im Mai 2023 verschleppte Russland den Mann von Liusiena Zinovkina. bild: privat Liusiena Zinovkina
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Russland verschleppt ihren Mann: "Ich konnte kaum atmen"

Die Ukrainerin Liusiena Zinovkina verlor durch den russischen Großangriff ihre Heimat und ihren Mann. Seit fast zwei Jahren hält Russland ihn unrechtmäßig in Gewahrsam. Verschleppt, verteufelt, verurteilt, weil er Ukrainer ist.
25.03.2025, 19:24
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Ihre Finger zittern, als sie ein Video auf ihrem Handy abspielt. Auf dem Display erscheint ein junger Mann mit kurzgeschorenen Haaren. Er sitzt hinter Gittern, mit blassem Gesicht, aber kämpferischem Blick. Neben ihm sitzt ein älterer Herr, der ihn auf Russisch verhört.

"Das ist, als ich ihn das erste Mal wieder sah", sagt die Ukrainerin Liusiena Zinovkina beinahe erleichtert. Denn andere haben nicht das Glück, ihre verschleppten Familienangehörigen in einem russischen Propagandavideo zu sehen.

Das klingt absurd, aber die Aufnahmen bedeuten Liusiena viel: Sie beweisen, dass Russland ihren Mann Kostiantyn entführt hat. Doch vor allem: Dass er noch lebt.

Der Ukrainer Kostiantyn Zinovkin (r.) in einem russischen Propaganda-Video.
Der Ukrainer Kostiantyn Zinovkin (r.) in einem russischen Propaganda-Video. Bild: bild / screenshot youtube

"Ich konnte kaum atmen, als ich den Link öffnete. Dann sah ich, dass er noch alle Finger, Hände, Beine und Augen besaß. Er war am Leben. Das gab mir Kraft", erzählt Liusiena im Gespräch mit watson.

Ukraine-Krieg: Ukrainer wollte Mutter und Oma nicht zurücklassen

Das letzte Mal sah sich das junge Paar am Valentinstag 2022, zehn Tage später startete Russland seinen Großangriff auf die Ukraine. "Ich war in Kiew und er in unserer Heimatstadt Melitopol mit seiner Mutter und Oma. Wir entschieden, dass es sicherer ist, dass ich nicht zurückkehre", sagt die junge Frau.

Kostia, wie sie ihren Mann nennt, sei überzeugt gewesen, dass es nur eine Provokation sei und die Russen bald wieder verschwinden würden. Doch sie blieben und nahmen ihn mit.

"Ich war sauer. Wir hatten ein großes Auto. Er hätte Mutter und Oma mitbringen können, ein paar unserer Sachen. Aber Oma wollte nicht, so blieb er auch", sagt Liusiena. Jetzt ist das Auto weg, die Ersparnisse, der Schmuck. Die Russen haben es sich genommen. Auch die Werkstatt, für die das Paar so hart gearbeitet hat, haben sie geplündert.

Liusiena und Kostia reisten viel und arbeiteten hart für eine eigene Werkstatt in der Ukraine.
Liusiena und Kostia reisten viel und arbeiteten hart für eine eigene Werkstatt in der Ukraine.bild: privat Liusiena Zinovkina

"Es war Kostias Traum, als Ingenieur eine eigene Werkstatt zu eröffnen. Als Tänzer haben wir dafür Geld in China und in der Türkei verdient; waren auch als Saisonarbeiter in Schottland unterwegs", meint Liusiena.

Fast ein Jahr lang lebte Kostia unter russischer Besatzung. Am 12. Mai 2023 kam er nicht mehr nach Hause.

Stattdessen klopften drei Männer an die Tür und teilten seiner Mutter mit, dass sie ihn festgenommen hätten, aber nach dem Wochenende würde er wieder heimkehren. Wochen verstrichen ohne ein Lebenszeichen des Vermissten. Der russische Geheimdienst durchsuchte laut Liusiena dreimal ihre Wohnung.

Im Juni teilte die russische Polizei der Mutter mit, dass ihr Sohn weiter im Gewahrsam sei. Grund: Er wäre ein Terrorist. Im Oktober taucht der Ukrainer plötzlich im russischen Staatsfernsehen auf.

Russland führt Zivilgefangenen im Propaganda-Video zur Schau

"Sie nennen ihn einen Zombie, der eine ukrainische Gehirnwäsche erhalten habe und glaube, Russland wäre ein Terrorstaat und die Ukraine ein unabhängiges Land", übersetzt Liusiena das Propaganda-Video, das watson vorliegt, ins Deutsche.

Aber nun habe er Zeit, "die wahre Geschichte" im Gefängnis zu lernen, heißt es weiter. Vermummte Wachleute führen Kostja in den Aufnahmen rabiat ab. Seine Arme sind am Rücken verbunden. Mit geducktem Oberkörper läuft er aus der Anhörungszelle in einen Gang und verschwindet.

Auf die Frage, wie Liusiena diese Bilder aushalten könne, presst sie die Lippen aufeinander und überlegt kurz. "Ich funktioniere wie ein Roboter", sagt sie lächelnd. Ihre rotunterlaufenen, müden Augen, die sich immer wieder mit Tränen füllen wollen, sprechen eine andere Sprache.

"Manchmal wussten wir genau, wo Kostia ist. Am Anfang in Melitopol, dann in Donezk, heute in der russischen Strafkolonie Rostow am Don", sagt die Ukrainerin. Es heißt, sie dürfe ihren Mann dort besuchen kommen. Aber ihr Anwalt rät ihr davon ab. Sie würde wohl selbst sofort im Gefängnis landen.

Insgesamt gebe es sieben Anklagepunkte gegen ihren Mann, darunter Terrorismus, Verrat am Vaterland und Waffenbesitz. "Kostia hat ein Gewehr von seinem verstorbenen Vater geerbt. Es war angemeldet, alles legal", sagt Liusiena. Aber die Waffe ist ein gefundenes Fressen für die Russen.

Kostia ließt sich von Russland nicht einschüchtern, jetzt sitzt er in einer russischen Strafkolonie.
Kostia ließt sich von Russland nicht einschüchtern, jetzt sitzt er in einer russischen Strafkolonie.bild: privat Liusiena Zinovkina

Dazu kommt eine mutige Aktion von Kostia, die ihm wohl auch zum Verhängnis geworden ist: eine Putin-Puppe.

Putin-Puppe: Ukrainer protestierte gegen russische Besetzung

Beim ukrainischen Frühlingsfest im März 2022, wenige Wochen nach der russischen Vollinvasion, wagten die Menschen in Melitopol es noch, gegen den Aggressor Russland zu protestieren – ganz vorne mit dabei Kostia.

Es gehöre zum Ritual, an diesem Tag eine Puppe zu verbrennen. Diesmal klebten die Bewohner:innen das Gesicht von Kreml-Chef Wladimir Putin auf sie drauf. "Und mein Mann stand genau neben ihr", sagt Liusiena. Auf ihrem Handy zeigt sie ein Video von der Protestaktion.

Sie sei sauer auf ihn gewesen und mahnte ihn, vorsichtiger zu sein. Doch Kostia lasse sich nicht einschüchtern. "Sein Herz blutet für die Ukraine", betont seine Frau. Auch im Gefängnis soll er andere Gefangene motivieren, am Leben zu bleiben. Das habe Liusiena von einem ehemaligen Mitinsassen von Kostia erfahren.

Mit jeder Silbe, die ihren Mund verlässt, hält sie die Tränen zurück. Es ist ein Damm, der kurz davor steht zu brechen, aber auch in ihr brennt ein Feuer, nicht aufzugeben. "Ich weiß, dass er spürt, wie sehr ich mich für ihn einsetze", meint sie.

Liusiena und Kostia an ihrem Hochzeittag.
Liusiena und Kostia an ihrem Hochzeittag.bild: privat Liusiena Zinovkina

Die Ukrainerin halte für Kostja und für seine Mutter durch. "Wenn ich aufgebe, fallen die Menschen, die ich liebe, wie Dominosteine um", sagt Liusiena. Auch anderen Betroffenen wolle sie Halt und Hoffnung schenken. Viele hätten wie sie gar nicht die Möglichkeit, auf das Thema aufmerksam zu machen.

Russland: Ukrainerin macht sich stark für Zivilgefangene

Nach dem russischen Großangriff floh Liusiena zu einer Freundin nach Berlin. In kürzester Zeit lernte sie Deutsch, fand Arbeit, startete ein neues Leben, während ihr altes in der Ukraine in Scherben liegt. Manchmal überfordere es sie, wie diese verschiedenen Realitäten auf sie einbrechen.

Mittlerweile fühle sie sich in Berlin nicht mehr allein mit ihrem Kampf um Kostia und all die anderen zivilen Gefangenen. Ihr Ziel: Diesen Schicksalen mehr Gehör zu verschaffen. "Im Fokus stehen vor allem Soldaten als Kriegsgefangene oder die durch Russland verschleppten Kinder", sagt sie.

Liusiena möchte ukrainischen Zivilgefangenen eine Stimme geben.
Liusiena möchte ukrainischen Zivilgefangenen eine Stimme geben.bild: privat Liusiena Zinovkina

Gemeinsam mit Journalist:innen, Politiker:innen und Organisationen wie der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) möchte sie den entführten Zivilist:innen ebenfalls eine Stimme geben.

Auf der Seite der IGFM sind mehrere verschleppte Ukrainer:innen aufgelistet, darunter etwa Studierende, Professor:innen, Rentner:innen, eine Kindergärtnerin. Manchmal sei der Aufenthaltsort bekannt, bei vielen nicht. Oft fällt das Wort Folter. Die Haftbedingungen in Russland seien katastrophal.

Russland-Gefangene erleiden mentale und körperliche Gewalt

Der IGFM zufolge werden Zivilgefangene schlecht ernährt, medizinisch nicht versorgt und schlafen auf dem Boden. Es kommt vor, dass sie im Schlaf von Ratten gebissen werden. Überlebende berichten von physischem, sexuellem und psychischem Missbrauch.

Wie viele Zivilist:innen Russland unrechtmäßig festhält, kann derzeit nur geschätzt werden. Laut Angaben des Menschenrechtsbeauftragten der Ukraine Dmytro Lubinets sind es mehr als 16.000. Die IGFM geht von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus.

Laut Liusiena brauche die Ukraine Unterstützung, diese Menschen nach Hause zu holen. Ihr zufolge gibt es dafür bis heute kaum Mechanismen. Sie versuche, alle Hebel in Bewegung zu setzen.

Stolz verkündet sie, dass Kostia nun eine Patenschaft des deutschen CDU-Abgeordneten Frank Steinraths besitze. Mit Briefen an die russischen Behörden übe der Politiker unter anderem politischen Druck aus.

Die Ukrainerin will und kann die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie ihren Mann am Valentinstag 2022 das letzte Mal in die Arme geschlossen haben soll. "Ich weiß, dass ich ihn wiedersehen werde. Es ist keine Frage des Ob, sondern des Wann."

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