Dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Autokrat ist, bestätigten Politikwissenschaftler:innen in zahlreichen Untersuchungen. Seit mittlerweile 20 Jahren regiert er die Türkei als Anführer der Partei AKP. Vor allem wirtschaftlich leidet das Land. Zwischenzeitlich lag die Inflationsrate bei mehr als 70 Prozent.
Doch es sind nicht die hohen Lebenshaltungskosten in der Türkei, die die Menschen von Istanbul bis Ankara aktuell auf die Straße treiben – oder zumindest nicht vorrangig. Es ist die Verhaftung des wichtigsten Oppositionspolitikers der Türkei: Ekrem Imamoğlu sollte bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2028 eigentlich gegen Erdoğan antreten.
Nicht nur Ekrem Imamoğlu selbst ist der Regierung damit ein Dorn im Auge, auch alle Menschen, die nun für ihn auf die Straße gehen. Mittlerweile wurden mehr als 1400 Demonstrierende verhaftet.
Für viele junge Türk:innen gehören solche Maßnahmen beinahe zum Alltag.
"Das ist jedes Jahr reines Glücksspiel, welche Gruppe der Staatsfeind Nummer 1 wird", erzählt Eylem (Name geändert*) im Gespräch mit watson. Sie ist 24 Jahre alt, aufgewachsen in einer kleinen Nachbarstadt von Istanbul. Heute studiert sie Politikwissenschaften in der Metropole, seit der vergangenen Woche nimmt sie täglich an den Demonstrationen gegen die türkische Regierung teil.
Eylem heißt eigentlich anders, aus Sorge um ihre eigene Sicherheit möchte sie anonym bleiben. Enge Freund:innen von ihr wurden bereits festgenommen. Sie selbst spricht schnell, aufgebracht, aber bestimmt, wenn es um die Proteste in der Türkei geht. Auf die Frage, wie die Stimmung auf den Straßen ist, antwortet sie mit einem Wort: furious – wütend.
"Die Menschen hier gehen nicht nur auf die Straße, weil sie das alles ungerecht finden. Sie sehen keinen anderen Weg mehr, um frei leben zu können", betont sie. Seit Jahren ist die Meinungsfreiheit in der Türkei nur auf dem Papier gültig, immer wieder werden Andersdenkende festgenommen.
"Die Türkei gilt als elektorale Autokratie, wo Mehrparteienwahlen stattfinden, diese aber nicht immer fair laufen und die Grundrechte Meinungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit nicht garantiert werden", betont Türkei-Expertin Dr. Gülistan Gürbey auf watson-Anfrage. "Mit der Festnahme İmamoğlus geht die Regierung sogar einen Schritt weiter. Diese signalisiert den Übergang der elektoralen in eine zunehmend geschlossene Autokratie."
Eine Situation, die Expert:innen schon länger kommen sehen. "Ich bin es so leid, Angst zu haben", sagt auch Eylem. Sie spricht fließend Englisch und Französisch, könnte ihr Studium auch in Europa fortsetzen. Wie für viele andere junge Menschen im Land ist es für sie aber ihre starke Verbundenheit zur Türkei als Kultur, die den Protest nährt.
"Wir haben nie einen anderen Präsidenten erlebt", sagt die 24-Jährige. "Wenn nicht wir kämpfen, wer dann?" Immer wieder betont sie im Gespräch, dass es den Menschen in der Türkei weniger um sich selbst als um das große Ganze, die Gemeinschaft, gehe.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass viele junge Menschen die Türkei verlassen. "Vor allem die gut ausgebildete Jugend sieht die Perspektiven im Land schwinden", bestätigt Ali Sonay, Nahost-Experte von der Universität Bern.
Devrim (Name geändert*) gehört zu dieser gut gebildeten Jugend. Auch er ist in Istanbul aufgewachsen, hat dort zusammen mit Eylem studiert. Vor drei Jahren aber zog Devrim nach Deutschland, hat hier ein vorübergehendes Visum für sein Studium bekommen – und will auch nicht wieder zurück in die Türkei.
"Wenn es um Autoritarismus geht, vergleiche ich die Türkei mittlerweile mit Russland oder Belarus", merkt er an. Der 25-Jährige hat Familie in Istanbul und viele Freund:innen. "Es frustriert mich, dass ich hier bin und nichts tun kann", sagt er.
Am Wochenende erzählt Devrim von seiner größten Angst: Dass Freund:innen von ihm verhaftet werden. Am Mittwoch hört er von den ersten Bekannten, dass sie mit Dutzenden anderen festgenommen und in Bussen zum Justizpalast gebracht wurden. Dort soll es keine Verhöre geben, nur ein allgemeines Urteil für alle. "Es ist eine Katastrophe", sagt Devrim.
Eylem wurde bisher nicht festgenommen, jeden Tag aber erlebt sie die Gewalt der Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken. Sich deshalb zurückzuziehen, ist für sie keine Option. "An diesem Punkt können wir unserem Land nicht mehr den Rücken kehren", sagt sie. Diese Zeit, so hofft sie, könnte einer dieser "kleinen Momente" in der Geschichte sein, die alles verändern.
Devrim ist da deutlich pessimistischer. "Geopolitisch ist Erdoğan gerade ein wichtiger Mann in Europa", betont er. Die Türkei verfügt über die zweitgrößte Armee der Nato. Gerade durch die sinkende Unterstützung der USA im Ukraine-Krieg könnte das bald wichtig für die europäische Verteidigung werden. "Er wird nicht einmal versuchen, sich nach außen demokratisch zu geben", sagt Devrim.
Gibt es überhaupt einen Ausweg aus der aktuellen Lage? "Es wird sehr davon abhängen, ob Regierung und Opposition eine Basis finden, das Vertrauen in die Justiz sowie demokratische Prozesse wieder zu erhöhen und so die Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie die wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen", erklärt hierzu Sonay.
Die Inflation liegt in der Türkei aktuell bei knapp 40 Prozent. Für Eylem und ihre Freund:innen bedeutet das auch, dass Aktivitäten wie Kino oder einen Restaurantbesuch nicht mehr im Rahmen des Möglichen liegen. "Wer sagt, dass man auch ohne ökonomischen Wohlstand reich sein kann, ist reich und betreibt Propaganda gegen die Länder der Dritten Welt", sagt sie.
Wie schlimm es ihrem Land wirklich geht, dafür hat Eylem eine einfache Formel: "Kinder kennen den Geschmack von rotem Fleisch nicht. So erkennt man bei uns, ob es der Wirtschaft gut oder schlecht geht."
Mit einer gewissen Häme in der Stimme bezieht sie das Ganze dann auch noch einmal auf die Weltlage. "Wenn Europa gute Soldaten will, habe ich schlechte Nachrichten: Wir essen kein rotes Fleisch, wir werden am ersten Tag fallen", erklärt sie.
Während sich also Europa Sorgen um die Verteidigung gegen Russland macht, steht für die Türkei aktuell einmal mehr die Demokratie auf dem Spiel. Dass das nicht einfach ist, wissen Eylem und Devrim. Doch für die Türkei und ihre Kultur lohnt es sich in ihren Augen, zu kämpfen.