Zuerst ging es um Überstunden, jetzt um Pressefreiheit und Demokratie. Die seit Tagen andauernden Demonstrationen in Ungarn haben sich zur größten Protestwelle seit dem Antritt der Orbán-Regierung vor acht Jahren entwickelt.
Begonnen hat die Protestwelle mit Demonstrationen gegen die Verabschiedung eines neuen Arbeitsgesetzes am vergangenen Mittwoch. Das Gesetz soll es Arbeitgebern ermöglichen, von ihren Angestellten bis zu 400 Überstunden pro Jahr verlangen zu können, die über einen Zeitraum von drei Jahren zu bezahlen sind. Bislang waren lediglich 250 Überstunden erlaubt. Orbán bezeichnet das Gesetz als Möglichkeit für Arbeitnehmer, ihre Gehälter aufzubessern, während gleichzeitig der Arbeitskräftebedarf der Automobilindustrie gestillt werde. Die Opposition spricht von einem "Recht auf Sklaverei".
Die Proteste richten sich auch gegen ein ebenfalls am Mittwoch vom Parlament verabschiedetes Gesetz für neue "Verwaltungsgerichte". Diese sollen von Justizminister Laszlo Trocsanyi beaufsichtigt werden, einem engen Verbündeten des Regierungschefs Orbán. Kritiker warnen vor einem übermäßigen politischen Einfluss auf das Justizsystem.
Die ersten Proteste wurden informell über soziale Netzwerke organisiert. Aber auch Vertreter der linken und rechtsextremen Opposition riefen zur Teilnahme auf. Die beiden politischen Lager hatten sich im Parlament zusammengeschlossen und versucht, das neue Arbeitsgesetz gemeinsam zu verhindern.
Schon in der vergangenen Woche zeichnete sich ab, dass die Protestwelle die heftigste seit Viktor Orbáns Amtsantritt im Jahr 2010 ist. Sie richtet sich zunehmend auch gegen den Ministerpräsidenten selbst. Als die Demonstranten am Freitag den dritten Abend in Folge auf die Straße gingen, riefen sie Parolen wie "Orbán, verschwinde!". Einige der 2000 bis 3000 Demonstranten warfen vor dem ungarischen Parlament in Budapest mit Flaschen und Rauchbomben auf Polizisten, die wiederum mit Tränengas gegen die Demonstranten vorgingen. Auch in anderen ungarischen Städten fanden kleinere Demonstrationen statt.
Allein in Budapest demonstrierten am Sonntag mehr als 15.000 Menschen. Sie waren einem gemeinsamen Protestaufruf aller Oppositionsparteien gefolgt, von den Grünen über Sozialisten und Liberale bis hin zu extrem rechten Parteien.
Anschließend verlagerten sich die Proteste vor die Zentrale des staatlichen Fernsehsenders MTV. 13 Oppositionsabgeordnete hatten sich am späten Sonntagabend Zutritt zu dem Gebäude verschafft und die Nacht und den folgenden Tag dort verbracht.
Am Montagnachmittag forderte die Polizei die Abgeordneten auf, das Gebäude zu verlassen. Diese weigerten sich jedoch, der Aufforderung Folge zu leisten. Wie Bilder von Handy-Kameras zeigten, legten sie sich zeitweise auf den Boden, um ein gewaltsames Abführen zu erschweren. Die Beamten sahen jedoch vorerst davon ab. Zuvor hatten die Politiker vergebens gefordert, im Fernsehen eine Petition der Demonstranten verlesen zu können.
Am Montag kam es vor dem MTV-Sitz zu Rangeleien zwischen Sicherheitsleuten und weiteren Abgeordneten, die als Volksvertreter Zutritt zur öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt verlangten. Auch im Gebäude kam es zu Zusammenstößen. Der Abgeordnete Agnes Vadai und Laszlo Varju von der linken Demokratischen Koalition (DK) wurden leicht verletzt.
Ihnen geht es längst nicht mehr nur um Überstunden, sondern um eine Vielzahl an Misständen unter der Orbán-Regierung. Zu den wichtigsten Themen gehören:
Die Petition der Demonstranten, die die Abgeordneten im Fernsehen verlesen wollten, umfasst fünf Punkte. Die Forderungen beinhalten die sofortige Rücknahme des Überstundengesetzes, die Reduzierung der Überstunden für Polizisten, eine unabhängige Justiz, den – von der Regierung bisher abgelehnten – Beitritt Ungarns zur geplanten Europäischen Staatsanwaltschaft und unabhängige öffentlich-rechtliche Medien.
Die Demonstranten richten sich aber auch immer mehr gegen Orbán selbst. Ex-Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany von der liberalen DK-Partei sagte im Sender Klubradio:
Ein Regierungssprecher hat die Proteste in der "New York Times" als bedeutungslos abgetan. Die Demonstrationen hätten "ganz klar keine Unterstützung im Volk", sagte Zoltan Kovacs, der für internationale Kommunikation zuständige Staatssekretär. Die Anführer der Proteste seien "verzweifelte" Oppositionspolitiker und "Promi-Aktivisten" und nicht Leute aus dem einfachen Volk, fügte er hinzu.
(fh/dpa/afp)