Von Mannheim über Lwiw nach Dnipro. Das war Mitte Mai die Route von Patrick Münz und Okan Baskonyali. Von Dnipro aus sollte es dann weitergehen: Dahin, wo sie gebraucht werden.
Patrick und Okan verteilen für die Organisationen STELP und "Leave no one behind" Hilfsgüter in den umkämpften Gebieten: Charkiw, Kramatorsk, Lysychansk, Sjewjerodonezk, Mykolajiw. Das sind die geplanten Städte.
Watson-Politikredakteurin Joana Rettig begleitet die beiden auf ihrer Mission.
Hier dokumentiert sie ihre Eindrücke und Erlebnisse aus ihrer ersten Woche in der Ukraine. Dieses Logbuch wird nicht mehr aktualisiert. Die Einträge aus Woche zwei findet ihr hier:
Schrapnellen hinterlassen Spuren.
Egal ob Stein, Stahl oder Asphalt: Schrapnellen bohren sich durch. Zurück bleiben Löcher, die jedes Leben im Bruchteil einer Sekunde auslöschen können. Die Löcher, die ich heute sehe, haben ihren Dienst vor wenigen Wochen getan. Sie klaffen wie tödliche Wunden auf einem grünen Stahltor, präsentieren ihre Wucht an einem braunen Haus, reißen Ziegel von den Dächern dutzender Gebäude.
Patrick, Okan und ich sind heute in Prybuzke, einem Vorort der südukrainischen Stadt Mykolajiw. Dieser Ort war bis vor wenigen Wochen noch von russischen Truppen besetzt. Ukrainische Streitkräfte konnten das Territorium aber zurückerobern.
Wir werden von einer Gruppe ehemaliger Militärs durch diese Gegend geführt. Der Chef der Einheit, Igor, war früher Unternehmer und entschied sich dann, humanitäre Hilfe zu leisten. Jetzt hat er es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen zu evakuieren und Lebensmittel in Orte zu bringen, die von der Außenwelt komplett abgeschirmt sind.
Seine Gruppe evakuiert Menschen im Übrigen nicht nur aus umkämpften Gebieten. Sie gehen in die roten Zonen – besetztes Territorium. Wirst du hier gesehen, lebst du nicht mehr lange.
Prybuzke, der Ort, an den uns Igor und sein Team bringen, war so ein Ort. Heute liegt er in Schutt und Asche. 1.400 Menschen lebten hier, 35 sind noch übrig. Der Rest ist entweder geflohen oder tot. Er liegt 5 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Heißt: Er steht auch noch immer unter Dauerbeschuss. Russische Truppen versuchen natürlich, sich das Gebiet wieder zu holen.
Doch Igor will uns mitnehmen, um uns zu zeigen, was hier passiert ist, wie es hier aussieht. "Wir wollen uns nicht verstecken, wir wollen, dass die Welt sieht, was sie uns antun", sagt er mir am Tag davor im Gespräch. Ein Satz, den ich hier in der Ukraine bereits öfter gehört habe.
Igor geht in diesen Ort, um die 35 übrigen Menschen zu versorgen. Die Militärs, die an den vielen Checkpoints um das Dorf stehen, kennt Igor bereits. Sie grüßen und unterhalten sich. Igor gibt auch ihnen Essen und Getränke.
Wir werden nicht mal nach unseren Ausweisen gefragt, unser Van wird einfach durchgewunken – so vertraut ist Igor mit den Soldaten vor Ort.
Was ich heute sehe, ist zu viel, um es in einem Protokoll niederzuschreiben. Riesige Krater im Asphalt, eine zerbombte Schule, herausgerissene Wände, die das Innere überstürzt hinterlassener Wohnungen preisgeben, Wäsche, die an einer Leine im Wind weht, als würde sie nur darauf warten, von ihren Besitzern abgehängt zu werden. Doch sie werden nicht kommen. Zierlauch, dessen Blüten fast so hoch stehen wie das Haus, vor dem er wächst – es liegt nur noch in Trümmern.
Wir müssen bei jedem Schritt aufpassen. Überall könnten Minen, Blindgänger oder Clustermunition liegen. Eine Berührung – und wir sind alle tot oder schwerverletzt. Fotos darf ich oft nur aus dem Auto machen, oder aber ich bekomme eine Minute Zeit, um nach draußen zu gehen. Dann muss alles sehr schnell gehen. Schnell aber bedacht.
Plötzlich hören wir den Knall, das Wummern. Eine Mine, 500 Meter entfernt.
"Go, go, go!", schreien uns die Männer in Camouflage an.
Gestern noch Dnipro im Osten, heute Mykolajiw im Süden. Am Montagabend sitzen wir mit einem Team aus dem Evakuierungsworkshop zusammen, suchen nach einer Route. Scheinbar ist die kürzeste Strecke über Riwne und Batschanka nicht sicher. Zumindest will sie uns Google Maps nicht anzeigen. Doch die Livemap zeigt eine halbwegs sichere Route an. Diese Karte – genannt: die Karte des Krieges – wird vom ukrainischen Militär betrieben. Sie zeigt genau an, wo wann welche Bombensysteme abgeworfen wurden, welches Gebiet von Russen besetzt und welches vom ukrainischen Militär zurückerobert wurde.
Mykolajiw ist ursprünglich eine 480.000 Einwohner Stadt. Doch viele sind bereits geflohen. Seit Kriegsbeginn ist Mykolajiw ein Angriffsziel der russischen Armee. Die Stadt liegt östlich von Odessa, gilt als Schutzwall dieses strategisch wichtigen Ziels.
Im März hatte ich einmal mit dem Bürgermeister Mykolajiws gesprochen. Die Stadt war zu dieser Zeit von Osten her umstellt von russischen Soldaten. Zwischenzeitlich waren sie sogar schon ein gutes Stück vorgedrungen. Doch das ukrainische Militär konnte wieder einiges an Land zurückgewinnen.
Hier wollen wir nun Kontakte knüpfen, netzwerken.
Wir haben uns in der Zwischenzeit entschieden, die kürzere Route zu nehmen. Das andere Evakuierungsteam hatte am Abend ein paar Anrufe getätigt, hat für uns die Lage mit ihren Kontakten gecheckt.
Wieder müssen wir früh raus. Um 4.30 starten wir.
In der Nacht auf Dienstag wurde die Stadt erneut von zwei Raketen getroffen.
Gegen 11 Uhr kommen wir an. Und treffen dort erst einmal Andreii: Jogginganzug in Camouflage, kaum Zähne im Mund, Mütze. Er ist einer der Menschen, die Patricks Kontakte in Kiew vermittelt hatten. Mit ihm will sich Patrick vernetzen, schauen, wo STELP oder "Leave noch one behind" helfen können.
Wir sollen ihm hinterherfahren. In der Stadt hängen überall große Plakate, auf denen ein Ork zu sehen ist, der Militärkleidung trägt, einen Schutzhelm. Auf seiner Brust ist ein Z aufgemalt. Die Ukrainer haben bereits vor Monaten damit begonnen, das russische Militär als "Orks" zu bezeichnen.
Andreii führt uns auf einen Platz, der früher einmal ein öffentlicher Kulturort in Mykolajiw war. Doch schon lange vor dem Krieg waren das Gebäude und das Gelände darum von Zerfall gezeichnet.
Hier haben sich nun Menschen zusammengetan, die Hilfsgüter an verschiedene Einrichtungen, aber auch an Privatmenschen weitergeben.
Der Termin geht schnell vorbei: Wir liefern noch das Desinfektionsmittel, das wir im Auto hatten, ab und fahren weiter.
Denn Alex wartet schon auf uns. Ein weiterer Kontakt.
In einem Café treffen wir ihn. Es fühlt sich irgendwie so falsch an, aber irgendwie auch vollkommen normal: Wir sitzen zu viert auf der Terrasse, schlürfen Kaffee und Limonade und genießen die Sonne. Das alles, während innerhalb und außerhalb der Stadt tausende Soldaten patrouillieren. Bei den Militär-Checkpoints auf dem Weg nach Mykolajiw liegen so viele Minen, dass durchfahrende Autos bei der kleinsten falschen Bewegung in die Luft gesprengt werden könnten.
Doch das Leben geht weiter. Auch in einer umkämpften Stadt.
Alex will uns in dieser kurzen Zeit so viel wie möglich zeigen. Ein zertrümmertes Hotel, ein zerbombtes Möbelgeschäft, ein zerstörter Supermarkt, kaputte Straßen. Er führt uns an diese Orte und verbindet uns mit weiteren Kontaktpersonen. Er besorgt uns ein Hotel, geht mit uns einkaufen. Hilft uns, Wasser an eine Verteilstelle liefern zu lassen.
Einer der Kontakte ist ein von der Stadtverwaltung organisiertes Logistikzentrum. Hier sprechen wir mit den Betreibern.
Wir müssen uns von Alex trennen. Denn Patrick hat einen neuen Termin.
So in etwa verläuft der gesamte Tag. Wir fahren von einem zum nächsten Ort. Treffen Menschen, reden, tauschen Nummern aus. Bis zum Abend.
Um 20 Uhr ist hier Sperrstunde. Es dauert nicht lange, bis der Bombenalarm losgeht. Doch was in Dnipro so normal geworden war, macht mir hier in der Stadt Sorgen.
Während wir in unserem Hotel sind, hören wir den Beschuss. Doch nah ist er nicht.
Am Mittwochmorgen erfahren wir, dass es offenbar in der Nacht in Dnipro einen Angriff auf den Bahnhof gegeben haben soll. Hier haben wir vor ein paar Tagen noch rund zwei Stunden mit einem Freund gesessen, Döner gegessen und gequatscht.
Verrückt.
"Eine gute medizinische Hilfe könnte eine schlechte taktische Entscheidung sein." Daniel steht vor der Leinwand in dem Bunker in Dnipro – und blickt ernst in die Runde der Zuhörenden. Heute ist Tag zwei unseres Evakuierungstrainings. Der Mann mit der Glatze und dem Dreitagebart kommt aus New York, er hat für die USA gedient, war im Irak. Heute ist er Volunteer bei GRM.
GRM bedeutet "Global Response Management". Das ist eine von Veteranen geführte internationale medizinische NGO mit Sitz in den Vereinigten Staaten. Doch sie agiert weltweit. Und Daniel ist mit seinem Team momentan in der Ukraine.
Die schlechte taktische Entscheidung, von der Daniel spricht, könnte so aussehen: Wir sind in einem Gebiet, das unter Beschuss steht. Wir sehen, dass eines unserer Teammitglieder verletzt wird – und müssen uns entscheiden: helfen oder nicht?
Und wie furchtbar die Verletzungen aussehen können, zeigen uns Daniel und sein Team heute nur allzu deutlich – und bildlich: von Schrapnellen aufgeschlitzte Beine, weggesprengte Beine, ein von einer Shotgun weggeschossenes Gesicht. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was auf uns zukommt, wenn wir in die umkämpften Gebiete in der Ukraine fahren – und auf Minen, Sniper und Clustermunition treffen oder etwa in einen Bombenhagel geraten.
Die Priorität: Erst sich selbst helfen. Danach kommt der Mensch in meiner Nähe. Und wenn die Erste Hilfe erledigt ist, rufen wir professionelle Hilfe. Denn Erste Hilfe in einem Krieg ist etwas anderes als bei einem Autounfall.
Hier entscheiden Sekunden.
Wir lernen heute mit vielen praktischen Übungen:
Es sind intensive acht Stunden. Noch am Anfang war ich geschockt davon, welche Art von Wunden hier ganz klar als Eventualität angesehen werden. Doch von Stunde zu Stunde merke ich, wie wichtig diese Details zu wissen, denn das könnte lebenswichtig sein.
Ein Erste-Hilfe-Kit mit Tourniquet, Verbänden und weiteren essenziellen Dingen bekommen wir sogar noch mit auf den Weg. "Ich hoffe, dass wir das niemals brauchen werden", sagt Okan, Patricks bester Freund.
Morgen geht es nach Mykolajiv. Hier könnte es gefährlich werden.
Bombenalarm ist Normalität geworden. Wir schlafen mit ihm ein, wir wachen mit ihm auf. Wieder habe ich nur zwei Stunden geschlafen.
Wir sind noch immer in Dnipro. Hier bleiben wir auch noch mindestens zwei Nächte. Denn wir lernen hier heute, wie wir das Evakuieren von Menschen ganz nah an der Frontlinie so "sicher" wie möglich gestalten können.
Die Organisation "Leave no one Behind" hat dafür einen Workshop organisiert. Timo Vogt leitet das Seminar, er arbeitet für die Hilfsorganisation "Cadus", die in Krisengebieten medizinische Nothilfe leistet. Mit von der Partie ist auch die ukrainische Gruppe "SOS Vostok", die 2014 ihre humanitäre Arbeit im Osten der Ukraine begann.
In einem Bunker in Dnipro treffen wir Timo.
Er hat rund 20 Jahre Erfahrung mit Kriegs- und Krisengebieten. "Ich wollte nie in einen Krieg involviert sein", sagt er zu Beginn des Seminars. Dann zählt er auf, wo er überall war. Als Foto-Journalist.
Im Kaukasus, Tschetschenien, Transnistrien, Palästina/Israel, Afghanistan, Syrien – und noch viele weitere.
Als er irgendwann mit den Seenotretterinnen und -rettern von "Sea Watch" in Kontakt kam, wurde er mehr und mehr ins Spektrum der humanitären Hilfe gezogen. Heute evakuiert er Menschen.
Und Timo stellt zu Beginn des Seminars klar: Er ist nicht hier, um mit erhobenem Zeigefinge zu erklären, wie Rettungsmissionen abzulaufen haben. Jede Situation ist individuell, jeder Tag ein anderer, Entscheidungen müssen den Gegebenheiten angepasst werden. "Wir können hier von den Erfahrungen aller profitieren", sagt er. Austausch, Vernetzung, gegenseitige Unterstützung.
Wir lernen heute vieles an Theorie:
Von 10 bis 19.30 Uhr sitzen wir in dem Bunker nahe dem Fluss Dnepr. Wir diskutieren, hören zu, stellen Fragen. Jeder, der rund 20 Menschen im Raum hat bereits Erfahrung im Evakuieren von Menschen.
Morgen geht es weiter: Dann lernen wir Erste Hilfe.
Wir starten unseren Tag in Dnipro. Es wird ein tränenreicher sein.
Wieder haben wir nur wenige Stunden geschlafen. Gestern Nacht sind wir gegen 0 Uhr in unserem Apartment angekommen, das wir dort gebucht haben. Dann mussten wir noch arbeiten. Ich war gegen 3 Uhr im Bett, Patrick und Okan arbeiteten noch weiter. Zwischen 4 und 4.30 Uhr legten sie sich schlafen.
Um 7 stellten wir unsere Wecker.
Wieder die gleiche Geschichte wie gestern: Van vollpacken mit Tee und los. Diesmal geht es nach Charkiw.
Wir treffen die Brüder Sergej und Slawik, 34 und 30 Jahre alt. Beide verheiratet. Beide frischgebackene Väter. Ihre Frauen und Kinder sind zur Zeit in Deutschland.
Und die beiden haben in kürzester Zeit eine Art Logistikzentrum für humanitäre Hilfe aufgebaut. Mit ihnen sind wir heute unterwegs. Mit ihnen bringen wir Hilfsgüter in eine Psychiatrie. Und wegen ihnen werden wir durch die einzelnen Stationen der Psychiatrie geführt. Stationen, die vor dem Krieg kaum genutzt wurden. Jetzt sind sie fast voll.
Mindestens 50 Prozent der Menschen, die dort behandelt werden, sind wegen des Krieges dort.
Die Klinik ist dunkel und von Verfall gezeichnet: Risse an den Wänden, eine angerostete Badewanne steht in einem Waschraum. Es riecht nach Urin, einige der Menschen liegen fixiert auf ihren Betten in den Gängen. In die Zimmer können sie nicht, wegen der Fenster. Zu gefährlich, sollten wieder Bomben vom Himmel kommen.
Starre Blicke, wirre Worte. Ein Man liegt auf seinem Bett, starrt an die Decke, schüttelt den Kopf. Er murmelt ununterbrochen: "Tötet sie nicht, tötet sie bitte nicht" auf Ukrainisch. Ein anderer hatte am Tag zuvor eine Tür mit der Faust eingeschlagen. Er kommt zu uns, zeigt uns seine Faust, zeigt uns die Wunde auf den Knöcheln. Er entschuldigt sich mit aufgerissenen Augen, er wisse nicht, was er getan hat, warum er das getan hat. Der Chef der Klinik streicht ihm über den Oberarm und reden mit gedämpfter Stimme, liebevoll auf ihn ein.
Ich beiße die Zähne zusammen, dass ich nicht weine. Doch irgendwann kann ich es nicht mehr zurückhalten.
Stille Tränen laufen meine Wange herunter.
Wenig später bringen wir Carepakete zu einzelnen Menschen im Norden von Charkiw. Das Gebiet ist extrem betroffen von den russischen Angriffen. Wir fahren durch Wohngebiete, in denen kein Haus mehr bewohnbar ist. Artilleriegeschosse sind dort in diese Häuser geschossen worden. Von der Druckwelle gingen die Häuser drum herum kaputt. Schrapnellen zerbarsten und ließen Löcher in Stahltüren und Steinwänden zurück.
Reste zweier zerfetzter Artilleriegeschosse liegen auf dem Gras im Außenbereich eines Kindergartens. Zwei tiefe Löcher im Boden markieren die Stelle, an der die Metallkörper eingeschlagen sind.
Immer mal wieder hören wir die Geschosse aus der Ferne. Von außerhalb der Stadt, wie uns Slawik erklärt.
Ein Mann, Oleksandr, zeigt uns seine ehemalige Wohnung, in der er mit seinen beiden kleinen Töchtern wohnte. Die Mädchen sind in Deutschland. Ihre Mutter, Oleksandrs Frau, starb kurz vor dem Krieg an Krebs.
"Ich will bei meiner Frau bleiben", sagt Oleksandr. "Ich will bei ihr begraben sein."
Während Oleksandr erzählt, muss ich immer wieder weinen. Er selbst bricht bei seinen Erzählungen in Tränen aus. "Bitte zeigt der Welt, was Putin uns angetan hat", sagt er.
Okan, Slawik und ich gehen zu dritt die sechs Stockwerke nach unten. Reden kein Wort. Schauen auf den Boden.
Wir hören nur unsere Schritte und das Schniefen unserer Nasen.
Nach der ersten Nacht kommt der Schock: Der Van hat einen Platten. Patrick und ich stehen um 6.30 Uhr vor dem Auto, suchen einen Wagenheber, fragen uns, wie es wohl weitergeht.
Okan und ich haben in einer Kirche in Dnipro geschlafen, Patrick im Auto. Er hat bis 4 Uhr gearbeitet.
Also: zusammenreißen! Möglichkeiten checken. Den Wagenheber finden. Und verstehen. Ersatzreifen: Check. Wir probieren uns seine Weile am Wagenheber aus. Kein Glück, kein Geistesblitz. Doch da kommen sie: vier Männer, sie sprechen kaum bis gar kein Englisch. Auch sie haben in der Kirche geschlafen. Viel ukrainisch, viele Handbewegungen, Gestiken und Mimiken später, ist der Van wieder fit.
Dann heißt es: Zum Lager fahren, Van vollpacken. Heute steht unsere erste Hilfsmission an. Die erste Fahrt geht vom Lager aus nach Kramatorsk. Wir liefern Tee. Tee, der vom Ministerium für Ernährung in Deutschland für die Ukraine gespendet wurde.
Auf dem Weg kommen wir an immer mehr Militär-Check-Points vorbei. Wir müssen jedes Mal unsere Reisepässe zeigen – uns gegenüber: schwer bewaffnete Militärs. Mein Presseausweis wird einmal fotografiert. Sie sind skeptisch.
Kurz vor der Region Donezk, ziehen wir unsere schusssicheren Westen an.
Unser erstes Ziel in Kramatorsk ist eine Unterkunft für Geflüchtete: Hier warten sie auf ihre Fluchtmöglichkeit. Wir hätten sie mitnehmen können, doch sie haben bereits eine Vereinbarung getroffen. Ein junger Mann, Yura, will mit. Er engagiert sich auch humanitär in der Ukraine.
In Kramatorsk angekommen, geht direkt der Bombenalarm los.
Diese Sirenen kennen wir schon aus Dnipro. Aber ich stelle fest: In einem umkämpften Gebiet ist es noch einmal etwas anderes. Ein beklemmendes Gefühl macht sich breit.
Unser zweites Ziel: ein Militärkrankenhaus, um den gespendeten Tee abzuliefern. Ich will Fotos machen. Auf meine erste Nachfrage scheint das auch in Ordnung zu sein. Die einzige Bedingung: Der Ort darf nicht erkennbar sein. Ansonsten droht die unmittelbare Gefahr eines Angriffes.
Plötzlich rennt eine Frau auf mich zu und schreit mich an. Dann versammeln sich fünf, sechs Männer um mich. Reden, befehlen, brüllen. Ich soll meine Fotos sofort löschen. Das mache ich, klar. Aber so richtig überzeugt sind sie nicht. Und vor allem sind die sauer, aber richtig.
Aus der Ferne hören wir Artillerie.
Wir müssen noch einmal zu einem anderen Van fahren, der Desinfektionsmittel geladen hatte. Und Mandeln.
Zurück beim Militärkrankenhaus versuche ich die Wogen zu glätten. ich will nicht das ukrainische Militär gegen mich aufbringen: Ich verteile die Nüsse bei den Herrschaften. Sie freuen sich. "Thank you", sagen sie.
Es ist Freitagfrüh, 1.30 Uhr. Wir kommen in Dnipro an, 36 Stunden Fahrt stecken uns in den Knochen. Pausen gab es nur, wenn wir tanken oder auf Toilette mussten. Gestartet sind wir am Mittwoch, 13.45 Uhr. Okan und Patrick sammelten mich an der Raststätte Lorsch Ost in Südhessen ein.
Patrick leitet eigentlich das Team von "Leave no one Behind" auf der griechischen Insel Lesbos. Als Russland seinen Angriffskrieg in der Ukraine startete, entschloss er sich kurzerhand, dorthin zu fahren. Diese Mission ist bereits seine dritte in das Kriegsgebiet.
Ich kenne Patrick schon länger. Wir sind ursprünglich wegen seiner Arbeit auf Lesbos in Kontakt gekommen. Seit er in die Ukraine geht, telefonieren wir häufiger. Diesmal wollte ich mit. Ich wollte sehen, wie seine beiden Organisationen – bei der Nothilfeorganisation STELP ist Patrick Zweiter Vorsitzender – ihre Arbeit machen. Wie es ihnen geht, wenn sie im Kriegsgebiet sind. Wenn sie das Leid der Menschen sehen, aber auch, wenn sie sehen, dass ihre Hilfe ankommt.
Okan ist Patricks bester Freund. Seit sie "kleine Stöpsel sind" – deren Worte – kennen sie sich. Sie sprechen den gleichen Dialekt, sind in derselben Stadt aufgewachsen. Jetzt gehen sie bereits das zweite Mal zusammen ins Kriegsgebiet.
36 Stunden Fahrt – viel Zeit zu reden. Und sie redeten auch. Über den Tod zum Beispiel. Was sie tun würden, wenn sie auf das russische Militär träfen. Was wohl mir, als deutsche Journalistin, aber vor allem als Frau passieren würde, träfe ich auf "die Russen".
Krude Szenarien, schwer zu verkraftende Bilder entstanden in meinem Kopf, aber ich löste mich schnell davon.
Vor allem, weil ich Patrick beim Telefonieren zuhören wollte. Wenn er nicht mit Okan sprach, telefonierte er. Auch während er ins Kriegsgebiet fährt, muss irgendwer den Laden auf Lesbos schmeißen – sagte er. Doch auch die Ukraine-Reise muss organisiert werden. Welche Routen sind sicher? Gibt es genügend Treibstoff im Land?
Die kurze Antwort: Nein.
Auch für uns nicht.
Ich schaute auf die Uhr: Wir waren schon rund 5 Stunden auf der Suche nach einer Tankstelle, die Benzin verkauft. Hin und wieder fanden wir lange Schlangen wartender Autos vor, die Diesel an verschiedenen Orten tanken wollten. Von Benzin keine Spur.
Als ich merkte, dass Patrick nervös wird, stieg auch meine Pulsfrequenz. Zwischenzeitlich hielten wir sogar an jeder Tankstelle und fragten nach.
Klein Glück für uns. Stundenlang.
Es startete ein Kopf-an-Kopf-Rennen: Navi gegen Tankanzeige: 632 Kilometer noch bis Dnipro. Im Tank war aber nur noch Sprit für 490 Kilometer. Trotz unserer Benzinreserven im Kofferraum, hätte das nie gereicht.
Dann sahen wir sie: eine Tankstelle, bei der wir Benzin tanken konnten. Uns waren nur 20 Liter erlaubt, aber immerhin. Bis nach Dnipro, bis zur Kirche, in der wir die erste Nacht schlafen sollten und bei der wir unseren Kugelsicheren Van abholten, reichte es.
1.45 Uhr ist es es am Freitagmorgen, als ich endlich schlafen kann. Das erste richtige Mal seit Mittwochmittag.