Jimmy "Barbecue" Chérizier ist in Haiti ein zweifellos mächtiger Mann.Bild: AP / Odelyn Joseph
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Jimmy "Barbecue" Chérizier ist in Haiti eine berüchtigte Figur, die auch über die Landesgrenzen hinweg immer mehr Schlagzeilen macht. In dieser zweiteiligen Serie werden im ersten Teil sein Aufstieg zur Macht und im zweiten Teil die Motive hinter seinem Kampf genauer beleuchtet.
Salome Woerlen / watson.ch
Liest man dieser Tage etwas über die Lage in Haiti, begegnet man unweigerlich seinem Namen: Barbecue, mit bürgerlichem Namen Jimmy Chérizier. Er soll derzeit einen Großteil der gesetzlosen haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince kontrollieren. Ein zweifellos mächtiger Mann, dem immer wieder dieselben Dinge nachgesagt werden: verantwortlich für diverse Massaker, isst das Fleisch seiner Feind:innen, ein brutaler Gangleader.
Was steckt wirklich hinter diesem berüchtigten Mann? Dieser Frage gingen die amerikanischen Investigativ-Journalisten Dan Cohen und Kim Ives 2022 im Rahmen eines dreiteiligen Dokumentarfilms auf den Grund. Sie zeigten keine Scheu, setzten sie sich ihm direkt gegenüber und ließen ihn seine gesamte Geschichte erzählen. Dabei stellten sie fest: Was er ihnen erzählt, ist verzwickt, komplex und weicht von allem ab, was die Massenmedien über ihn berichten.
Was das mit einer haitianischen Menschenrechtsorganisation und den USA zu tun hat und wie er gemäß eigenen Aussagen zum sozialen Anführer geworden ist, wird in diesem ersten Teil behandelt. Im zweiten Teil richtet sich der Fokus auf seine Motive und Ziele und was diese für die Zukunft Haitis bedeuten.
Die gescheiterte Polizeikarriere
Jimmy Chérizier wuchs in Delma 6, einem Armenviertel in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince, auf. Von dort stammt gemäß seinen eigenen Angaben auch sein Übername Barbecue. Es habe in seinem Viertel damals so viele Jimmys gegeben, dass man ihn schlicht nach der Tätigkeit seiner Mutter benannt habe, die Würstchen grillte und verkaufte.
Wenn das Essen bereit gewesen sei, habe er es mit einem Topf auf dem Kopf an den Markt ausgeliefert, erkärt Chérizier im Dokumentarfilm.Bild: youtube / uncaptured media
Seine Feind:innen und Kritiker:innen erzählen hingegen eine brutalere Version: Seine Name rühre von seiner Vorliebe, seine Rivalen zu grillen, anzuzünden und zu verkohlen. Dass wohl ein bisschen Wahrheit in beiden Versionen steckt, wird sich im Verlauf dieser zweiteiligen Serie herausstellen.
Das Leben in den Armenvierteln von Port-au-Prince war kein einfaches, bereits seine Kindheit war von Gang-Gewalt geprägt. Als Erwachsener nahm er sich vor, etwas dagegen zu tun: Er ließ sich zum Polizisten ausbilden und begann in einer Einheit zu arbeiten, die auf die Bekämpfung von Gangs spezialisiert war, wie er den beiden Filmemachern erzählt.
Jimmy Chérizier während seiner Zeit bei der PolizeiBild: youtube / another vision: inside haiti's uprising
"Mein Herz war glücklich, als ich Haitis Nationalpolizei beitrat."
Jimmy Chérizier
Das sollte sich bald ändern. Bei seiner Arbeit als Polizist habe er schnell realisiert, dass das Gesetz in Haiti nur für die Armen, nicht aber für die Reichen gelte.
Bild: youtube / another vision: inside haiti's uprising
"Als Polizist hatte ich kein Recht, diese Menschen anzufassen, geschweige denn festzunehmen. Im Gegenteil: Die Menschen mit viel Geld und Einfluss, die das Gesetz brachen – ich sah sie meinen Vorgesetzten, den Polizeichefs, gegenübersitzen."
Dennoch kämpfte er weiterhin gegen die Gangs, bis ein Vorfall im November 2017 seinen guten Ruf befleckte. Eine von der UNO unterstützte Polizeioperation gegen Gangmitglieder endete in einem Massaker an Zivilist:innen.
In darauffolgenden Berichten der RNDDH (Réseau National de Défense des Droits Humains) – einer der wichtigsten Menschenrechtsorganisationen des Landes – wird Jimmy Chérizier ohne Beweise vorgeworfen, am Massaker beteiligt gewesen zu sein. Laut den Filmemachern der Startschuss einer Desinformationskampagne gegen Barbecue.
Die undurchsichtigen Massaker
Trotz der Vorwürfe durfte Chérizier in der Polizei bleiben. Erst das sogenannte La-Saline-Massaker am 13. November 2018, ein Jahr später, markierte das Ende seiner 14-jährigen Polizeikarriere. Laut Berichten soll Jimmy Chérizier dem später ermordeten Präsidenten Jovenel Moïse und dessen Regierungspartei PHTK nahegestanden haben. Aus diesem Grund sollen sie in gemeinsamer Sache ein Massaker in La Saline, in einem für seine Opposition bekannten Viertel, durchgeführt haben.
Der meistzitierte Bericht dieses Vorfalls stammt von der RNDDH und ihrem Vorsitzenden Pierre Espérance. Im Bericht, der am 1. Dezember veröffentlicht wurde, ist von 59 Toten die Rede. Eine andere lokale Menschenrechtsorganisation schätzte die Todeszahl am 6. Dezember auf zwischen 15 und 25. Ein großer Zahlenunterschied, obwohl beide angeben, Befragungen der lokalen Bevölkerung durchgeführt zu haben. In einem Punkt sind sie sich jedoch einig: Erneut soll Jimmy Chérizier am Massaker beteiligt und gar einer der Drahtzieher gewesen sein.
Pierre Espérance, Chef der RNDDH, im Gespräch mit den Filmemacher:innen.Bild: youtube / uncaptured media
Um diesem Vorwurf auf die Spur zu gehen, führten die Filmemacher umfassende Interviews mit lokalen Anwohner:innen und Beamt:innen und analysierten die insgesamt sieben vorliegenden Berichte von Menschenrechtsorganisationen. Fazit: Viele der Aussagen widersprechen sich, über die Anzahl Toten herrscht keine Einigkeit (die Zahlen schwanken zwischen 15 und 71) und für Jimmy Chériziers angebliche Beteiligung gibt es keine Beweise. Uncaptured Media, das Multimedia-Projekt vom Filmemacher Dan Cohen, zweifelt angesichts einiger Zeugenaussagen sogar an, dass es sich überhaupt um ein Massaker gehandelt haben soll. Das Medium vermutet eher einen Zusammenstoß zweier rivalisierenden Gangs, dem auch Zivilist:innen zum Opfer gefallen seien.
Der lange Arm der USA
Hinter den Anschuldigungen gegen Chérizier sehen die Filmemacher einen bewussten Schachzug der RNDDH. Die Menschenrechtsorganisation mit dem Vorsitzenden Pierre Espérance pflegt seit fast 30 Jahren ein nachweislich enges Verhältnis mit den USA. In der jüngsten Vergangenheit wurde sie unter anderem von der US-Organisation National Endowment for Democracy (NED) finanziert – kein unbeschriebenes Blatt.
Hängt im Büro vom RNDDH-Chef Pierre Espérance: ein Menschenrechtspreis, verliehen von der US-amerikanischen Botschaft für seine Arbeit bei der RNDDH (früher: National Coalition for Haitian Rights).Bild: youtube / uncaptured media
Die NED wurde 1983 als quasi-autonome Nichtregierungsorganisation in den USA gegründet und setzt sich weltweit für die Förderung der Demokratie ein, indem sie politische und wirtschaftliche Institutionen unterstützt. Finanziert wird sie jährlich durch Mittel aus dem US-Haushalt. Dass die NED mit ihrer Gründung unter anderem frühere Aktivitäten der CIA übernommen hat, gibt Mitgründer Allen Weinstein 1991 gegenüber der Washington Post offen zu:
"Vieles von dem, was wir heute tun, wurde vor 25 Jahren von der CIA im Verborgenen getan."
Nicht zuletzt deswegen wird der NED von Kritiker:innen vorgeworfen, ein Instrument der US-Außenpolitik zu sein und Regimewechsel im Ausland nach eigenen Interessen zu beeinflussen.
Auf ihrer Website listet die NED auf, welche Organisationen sie in Haiti mit Fördergeldern unterstützt. Die letzten Einträge gehen auf das Jahr 2021 zurück und nennen fünf unterstützte Organisationen. Wie Kim Ives für Haiti Liberté Ende 2023 feststellte, waren ursprünglich zehn Organisationen auf der Liste, darunter die RNDDH. Im Web-Archiv ist diese komplette Liste der Organisationen noch immer ersichtlich. Wieso fünf der Einträge mehr als 1,5 Jahre nach Publikationsdatum gelöscht wurden, erklärt die NED nicht.
Ob das bloß auf eine Korrektur aufgrund eines Fehlers zurückzuführen ist oder ob die NED ihre Geldflüsse vertuschen will, ist unklar. Eine Anfrage von watson blieb unbeantwortet.
Die Filmemacher sind überzeugt, dass die USA mithilfe der NED und der RNDDH eine Desinformationskampagne gegen Chérizier führen. Ziel der USA sei es, mit Chérizier als Sündenbock eine weitere Intervention in Haiti rechtfertigen zu können. Damit hätten sie in Haiti erneut einen Fuß in der Tür, nachdem sie 2019 ihre letzten Truppen abgezogen hatten. Wie Haiti-Experte und Journalist Jonathan Katz für das US-Magazin Foreign Policy schreibt, seien die USA oder ihre Stellvertreter in den letzten 108 Jahren 41 Jahre davon in Haiti präsent gewesen. Immer im Namen von Friedensherstellung, politischer Stabilität und Menschenrechten – nie mit Erfolg, so Katz.
Glaubt man den Filmemachern, so scheint der Plan der USA aufgegangen zu sein: Der UN-Sicherheitsrat genehmigte im Oktober 2023 eine von Kenia geleitete Sicherheitsmission, die größtenteils von den USA finanziert wird. Wie und ob überhaupt die negative Berichterstattung der RNDDH diesen Entscheid letztendlich beeinflusst hat, bleibt offen.
Klarer scheint hingegen, dass die negative Berichterstattung über Chérizier mit der RNDDH begonnen hat.
Die Geburt des bösen Barbecue
Auf Basis des RNDDH-Berichts schaffte es Jimmy Chérizier ab 2019 trotz der undurchsichtigen und schwammigen Beweislage in die amerikanischen Massenmedien. Unter dem Titel "Anführer oder Killer?" berichtete AP News als erstes amerikanisches Medium über Chérizier und verwies dabei auf seine mutmaßliche Beteiligung am La-Saline-Massaker. Das Narrativ des bösen Barbecue in den Massenmedien war geboren. Seither wird in beinahe jedem Bericht auf die von ihm mutmaßlich durchgeführten Massaker verwiesen.
Chérizier weist im Gespräch in der Dokumentarserie alle Vorwürfe von sich und sieht sich als Opfer einer Rufmord-Kampagne. Im Gegensatz zu den Filmemachern sieht er den Ursprung der Kampagne lokal angesiedelt: Er habe den Zorn der Politik und der reichen haitianischen Elite auf sich gezogen, weil er sich nicht kaufen lasse und gegen sie vorgehe:
"Dieser Kampf richtet sich gegen fünf Prozent von Familien, die 85 Prozent des Reichtums der Nation kontrollieren. Ich prangere die Reichen an, deshalb seht ihr, wie sie mich so zerstören."
"Sie zerstören mich und schützen diejenigen, die gegen mich sind", erklärt Chérizier in der Dokumentarserie.youtube / uncaptured media
Indem sie ihn beschuldigten, würden sie die Realität im Land vor der Welt vernebeln und von den wahren Problemen ablenken. Das will Chérizier ändern. Ein schwieriges Unterfangen in einem Land, in dem für Politik, Polizei, Gangs und die reiche Elite andere Gesetze gelten und alle irgendwie miteinander verstrickt sind. Dass Politiker mit Gangs zusammenarbeiten, sie mit Waffen versorgen und sie für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren, ist in Haiti ein offenes Geheimnis.
Auch wenn er es nicht zugibt, profitiert Chérizier offensichtlich auch selbst von dieser Korruption: Trotz seines Rausschmisses aus der Polizei hat er noch immer Zugang zu Waffen. Diese Tatsache rechtfertigt er, indem er immer wieder betont, diese nur für gute Zwecke einzusetzen.
Der Kampf um Frieden
Sein Ausschluss aus der Polizei hielt ihn nicht davon ab, auf eigene Faust Gangs aus seinem Viertel zu vertreiben und Kräfte zu mobilisieren, um es vor Angriffen zu schützen. Im Gegenteil: Losgelöst von polizeilichen Vorschriften – auch wenn diese nie viel zählten – schien er noch hemmungsloser durchzugreifen.
Bezeichnend dafür war ein Vorfall im November 2019, als gegnerische Gangs aus dem Nachbarviertel Bel-Air im Protest gegen den damaligen Präsidenten Jovenel Moïse Straßenbarrikaden errichteten. Dass diese unter anderem den Zugang zu Chériziers Viertel versperrten, war diesem ein Dorn im Auge. Die Regierung forderte die Bewohner:innen Bel-Airs mehrfach dazu auf, die Barrikaden zu entfernen, was diese aus Protest nicht taten – bis die Situation eskalierte.
Unter Chériziers Führung – mutmaßlich mit Unterstützung der nationalen Polizei – wurden die Barrikaden und mehrere Häuser angezündet sowie mehrere Menschen getötet. Laut den Gang-Anführern Bel-Airs soll die Regierung Chérizier für diesen Angriff angeheuert haben, wie die RNDDH berichtet. In dem aufflammenden Konflikt sollen laut RNDDH zwischen dem 4. und 8. November insgesamt 24 Menschen auf beiden Seiten getötet worden sein. Im Bericht wird auch der Ursprung von Jimmy Chériziers Übernamen erklärt:
"Den Anwohnern zufolge gaben ihm die Bewohner der Gegend den Spitznamen 'Barbecue', weil er seine Opfer verkohlte oder sie einfach der Tortur des Feuers aussetzte."
Chérizier bestreitet den Angriff nicht, stellte die Situation in einer lokalen Radiosendung wenige Tage später aber anders dar. Dabei konfrontierte er den populären Polizisten Guetchine "Pachou" Auguste, der nahe der Barrikade wohnte. Chérizier betonte, dass er grundsätzlich nichts gegen Barrikaden hätte, solange nicht Geld für den Durchgang verlangt würde und Ambulanzen durchgelassen würden.
Jimmy Chérizier im Gespräch mit dem Polizisten Guetchine Auguste.Bild: youtube / another vision: inside haiti's uprising
Doch dies sei nicht der Fall gewesen und Auguste habe dies zugelassen. Deshalb habe er, Chérizier, eingreifen müssen. "Aktion, Reaktion", erklärte er später in der Dokuserie. Er bevorzuge aber den friedlichen Weg, betonte er im Gespräch mit Auguste und forderte ihn auf, sich mit ihm zusammenzusetzen, um den Frieden zwischen beiden Vierteln wiederherzustellen.
Dabei wies er die Vorwürfe von sich, ein Gangleader zu sein, da er im Gegensatz zu "richtigen" Gangleadern gute Zwecke verfolge:
"Sie nennen mich einen Gangleader, weil die Positionen, die ich vertrete, sie nicht unterstützen. Ich werde nie ein Gangleader sein. Das werde ich immer wiederholen. Der Tag, an dem ich zum Gangleader werde, der jemandem eine Waffe gibt, um stehlen zu können, mir Geld zu bringen, zu entführen, schlechte Dinge zu tun, wird der Tag sein, an dem ich diese Waffe nehme, um mir selber in den Kopf zu schießen. Ich werde nie ein Gangleader werden. Ich bin ein sozialer Anführer."
Sein Wunsch nach Frieden schien auf taube Ohren gestoßen zu sein. Die Filmemacher sprechen mit diversen Menschen sowohl aus Chériziers Viertel als auch aus rivalisierenden Vierteln. Sie alle beschuldigen sich gegenseitig brutaler Angriffe.
Chérizier macht in einem Anfang des Jahres veröffentlichten Dokumentarfilm keinen Hehl daraus, dass er zu Gewalt greift. Ohne mit der Wimper zu zucken, erklärt er den Dokumentarfilmern, dass er sich habe rächen müssen, nachdem bewaffnete Gruppen aus dem Nachbarviertel Bel-Air wenige Tage davor sechs Menschen in seinem Viertel getötet hätten. Wie der Anführer von Bel-Air im Film klagt, hätten Chériziers Männer mehrere Häuser angezündet, wobei ein Mann im Rollstuhl in den Flammen gestorben sei – Barbecue in seiner berüchtigten Form.
Mit seinem Sprung in die Massenmedien wurde Chérizier ab 2019 über die Grenzen seines Viertels und seines Landes hinweg zu einem bekannten Mann: in Delma 6 geliebt, außerhalb gefürchtet. Ein Kämpfer, der für Frieden und Sicherheit in seinem Viertel auch vor Gewalt nicht zurückschreckt.
Nur: Frieden und Sicherheit kehrten nie so richtig ein. Einer der Gründe, weshalb Chérizier 1,5 Jahre nach seinem Polizei-Rausschmiss beschloss, zu noch radikaleren Maßnahmen zu greifen.
Teil 2 "Barbecue – Revolutionär um jeden Preis" wird am Sonntag um 10 Uhr erscheinen.