Historiker identifizieren SS-Schützen auf historischem Foto mittels KI
Das Foto ist kaum zu ertragen: Ein Mann sitzt am Rand einer Grube voller Leichen, ein deutscher Soldat richtet seine Pistole auf ihn. Rundherum stehen andere Soldaten, manche beobachten die Szene, fast beiläufig.
Das Bild mit dem Titel "Der letzte Jude in Winniza" gilt als eines der bekanntesten Zeugnisse der Schoa (Holocaust). Bis vor Kurzem wusste niemand, wer die Szene aufgenommen hat, wo genau sie entstand und wer auf dem Bild zu sehen ist.
Historisches Bilderrätsel mithilfe von KI gelöst
Mehr als acht Jahrzehnte später haben Forscher nun Antworten gefunden, mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI).
Historiker Jürgen Matthäus vom US Holocaust Memorial Museum konnte gemeinsam mit Freiwilligen des OSINT-Kollektivs Bellingcat nicht nur den genauen Ort, sondern auch den Schützen identifizieren. Die Technologie half dabei, ein historisches Rätsel zu lösen, das jahrzehntelang offenblieb.
Historisches Foto: Kopie bringt Forscher auf die richtige Fährte
Der Stein ins Rollen kam 2023, durch Zufall. In einem Müllcontainer in Wien fand jemand mehrere Kisten mit Dokumenten eines Wehrmachtsoffiziers: des Österreichers Walter Materna.
Sein Tagebuch und Fotoalbum gelangten später in den Besitz des Holocaust-Museums in Washington. In diesen Unterlagen entdeckte Matthäus eine Kopie des berüchtigten Fotos, versehen mit der Notiz: "Erschießung von Juden in der Zitadelle Berdytschiw, 28. Juli 1941".
Das Bild war demnach gar nicht in Winniza entstanden, wie jahrzehntelang angenommen wurde, sondern in der ukrainischen Stadt Berdytschiw, rund 70 Kilometer entfernt. Dort ermordete die Einsatzgruppe C der SS im Sommer 1941 tausende Jüd:innen.
Auch ein Wehrmachtstagebuch, das der Historiker im Archiv fand, bestätigte den Ort. Darin stand: "Erschießung von Juden durch die SS in Berdytschiw. Musste das sein? Wahnsinn."
Damit war erstmals ein genauer zeitlicher und räumlicher Kontext hergestellt – und die Grundlage für die Identifizierung des Täters gelegt.
Luftaufnahmen und Satellitenbilder bringen Schlüssel-Detail
Um den genauen Ort der Aufnahme zu finden, arbeitete Matthäus mit dem Bellingcat-Freiwilligen York Olaf Schumacher zusammen. Der OSINT-Analyst verglich historische Luftaufnahmen, Archivkarten und aktuelle Satellitenbilder, um markante Strukturen wiederzuerkennen.
Auf dem Originalfoto sind etwa ein Mauerbogen und zwei Schornsteine zu sehen – Merkmale, die sich eindeutig der Zitadelle von Berdytschiw zuordnen ließen. "Das Sonnenlicht fiel aus einem Winkel, der eindeutig auf einen frühen Morgen hindeutet", erklärt Matthäus.
Heute erinnert an dieser Stelle ein sowjetisches Denkmal an "960 sowjetische Bürger, Opfer des deutsch-faschistischen Terrors 1941–1943". Dass sich unter diesen Opfern auch der Mann vom berühmten Foto befand, gilt als wahrscheinlich.
Identifizierung des SS-Offiziers: Täter stammt aus Ostfriesland
2025 gelang schließlich der letzte Schritt: die Identifizierung des Schützen. Nachdem "Welt" über die Forschung von Matthäus berichtet hatte, meldete sich ein Leser anonym bei ihm.
Er erkannte auf dem Foto den Onkel seiner Frau und legte dem Historiker persönliche Dokumente und Familienfotos bei. Matthäus verglich diese Daten mit Unterlagen aus SS-Archiven – und stieß auf Jacobus Onnen, geboren 1906 in Ostfriesland.
Onnen war Lehrer für Englisch und Französisch, trat 1931 der SA bei und ein Jahr später der SS. 1941 wurde er der Einsatzgruppe C zugeteilt. Diese ermordete in der besetzten Ukraine Jüd:innen, Kommunist:innen und vermeintlich "politisch Unzuverlässige".
"Die Ähnlichkeit zwischen den Fotos war frappierend", schreibt Matthäus in der Fachzeitschrift Holocaust and Genocide Studies. Doch um endgültige Gewissheit zu bekommen, wurde moderne Technik eingesetzt.
Freiwillige von Bellingcat prüften das Bild mit dem Gesichtserkennungsdienst Amazon Rekognition – einem Tool, das normalerweise von IT-Firmen zur Identitätsprüfung verwendet wird. Das Ergebnis war eindeutig: Die Software bestätigte eine Übereinstimmung von 98 bis 99 Prozent zwischen Onnens Porträts und dem Mann auf dem Foto.
Damit war der Täter des ikonischen Holocaust-Bildes identifiziert, über 80 Jahre nach der Tat. "Formell lässt sich daraus keine absolute Wahrscheinlichkeit berechnen", betont Matthäus. "Aber ein Zufall ist so gut wie ausgeschlossen." Für Historiker ist das ein Durchbruch: Nie zuvor war Künstliche Intelligenz in so präziser Form zur Aufklärung eines NS-Verbrechens eingesetzt worden.
Warum Onnen, der einst Sprachlehrer war, zum Täter wurde, bleibt unklar. Ebenso, wer der Mann auf dem Foto ist, der im nächsten Moment erschossen wurde. Matthäus sucht weiterhin nach seiner Identität, in ukrainischen Archiven, zusammen mit lokalen Historiker:innen.
