Politologe Münkler warnt: Die EU könnte am Ende des Jahrzehnts zerfallen
Europa und die freien demokratischen Grundwerte stehen in Anbetracht der aktuellen geopolitischen Entwicklungen von allen Seiten unter Beschuss. Sei es durch Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin oder rechtsextreme Tendenzen, die von den Autokratien der Welt befeuert werden. Hinzu kommt, dass auch in den USA demokratische Strukturen offen angegriffen werden.
Die politischen Bruchlinien verlaufen tiefer, als viele wahrhaben wollen.
In Europa wachsen ebenfalls populistische Bewegungen, rechte Parteien feiern Wahlerfolge. Das Projekt Europäische Union steht stärker unter Druck als je zuvor, wenn es nach der Meinung des Berliner Politologen Herfried Münkler geht. Er warnt vor einem möglichen Zerfall der EU, sieht jedoch auch überraschende Chancen.
Ende der Partnerschaft? Politologe zeichnet düstere Zukunft der EU
In einem "Tagesspiegel"-Essay skizziert er mögliche Szenarien. Die oft diskutierte Demokratieschwäche der Union sei nicht das eigentliche Problem, schreibt Münkler. Viel wichtiger sei die Frage, "ob es die EU am Ende dieses Jahrzehnts noch geben wird oder ob sie nach Wahlerfolgen populistischer und nationalkonservativer Parteien in einigen EU-Mitgliedsländern zerschlagen worden ist."
Damit stellt er klar: Nicht nur das Funktionieren, sondern das Überleben der Union steht auf dem Spiel. Ein Blick nach Ungarn zeige, wie illiberale Modelle selbst innerhalb der EU wachsen konnten, bislang gebremst nur durch Milliardenhilfen aus Brüssel. Fiele dieser Rahmen weg, könnten autoritäre Regierungen ihre Macht deutlich ausweiten.
Politologe warnt: Populisten bedrohen Verfassung
Münkler unterscheidet zwei mögliche Entwicklungen: Auf nationaler Ebene könnte die Demokratie liberal bleiben, mit garantierten Grundrechten, unabhängigen Gerichten und pluralistischer Gesellschaft. Oder sie kippt in eine autoritäre Richtung, in der Gerichte und Medien ihre Unabhängigkeit verlieren.
Besonders gefährlich ist ihm zufolge die gängige Strategie vieler Populist:innen, das Prinzip der Mehrheit gegen die Verfassung auszuspielen. Münkler warnt: "Es werden ausgesprochen unruhige Zeiten sein, in denen der liberal-demokratische Rechtsstaat ständig herausgefordert ist."
Auch wenn rechtspopulistische Parteien hierzulande zulegen, sieht Münkler aktuell keine Chance auf eine Regierungsübernahme durch Figuren vom Typ Donald Trump oder Giorgia Meloni. "Weder mit einem Trump noch einer Meloni ist in Deutschland vorerst zu rechnen", schreibt er. Blockaden durch rechte Parteien sind ihm zufolge möglich, eine verfassungsändernde Mehrheit jedoch nicht in Sicht.
Zudem verweist der Politologe auf eine überraschende Hoffnung: die Kommunalpolitik. Dort könnten Bürger:innen tatsächlich erleben, dass ihre Entscheidungen Wirkung zeigen. Das wiederum schafft ihm zufolge ein Gegenmittel gegen das Gefühl politischer Ohnmacht. "Die repräsentative Demokratie wird in Zukunft umso stabiler sein, je mehr die Bürger in der Kommunalpolitik politische Erfahrungen sammeln und Immunität gegen die Parolen des Populismus ausbilden", schreibt Münkler.