Manche Menschen unter 18 haben ihre Stimme schon am 19. September abgegeben, eine Woche vor dem Ende der Bundestagswahl. Allerdings hatte das nur symbolischen Wert. Die Wahlbeteiligung bei der sogenannten U-18-Wahl erreichte mit 262.000 Teilnehmenden laut dem Bundesministerium für Familie einen Rekord. Nach dem Ergebnis dieser Wahl hätten bundesweit die Grünen (21 Prozent) die meisten Stimmen der Unter-18-Jährigen für sich gewinnen können, gefolgt von der SPD (19 Prozent).
Bis Sonntag, 26. September, 18 Uhr, dürfen aber auch rund 8,7 Millionen junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren ihre Stimme abgeben.
Wie gut die junge Generation von den Parteien im Wahlkampf repräsentiert wurde, was die wichtigsten Themen sind und wie sich das Parlament entwickeln müsste, um wirklich gerecht zu sein, darüber hat watson mit Klaus Hurrelmann gesprochen.
Hurrelmann ist Jugendforscher und Mitautor der regelmäßig erscheinenenden Shell-Jugendstudie. Außerdem ist er Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin.
watson: Haben Sie den Eindruck, dass die Interessen junger Menschen in diesem Wahlkampf genug wahrgenommen werden, Herr Hurrelmann?
Klaus Hurrelmann: Es ist immerhin gelungen, das Umweltthema bei allen Parteien zu verankern und an prominenter Stelle zu platzieren. Das ist ein Verdienst von jungen Leuten und der von ihnen so maßgeblich getragenen Bewegung.
Also ja?
Insgesamt haben die jungen Leute aber zu Recht das Gefühl, dass sich die politische Landschaft nicht besonders stark um ihre Interessen kümmert. Das liegt daran, dass sie zahlenmäßig sehr wenige sind und die Parteien auf die großen Blöcke der Wählerschaft schauen müssen.
Die von Ihnen erwähnte Bewegung ist Fridays for Future. Die Klimaschutzaktivistinnen und -Aktivisten sind oft so laut, dass man schnell davon ausgehen kann, dass die komplette junge Generation grün und klimabewusst sei. Es gibt aber auch andere Gruppen von jungen Menschen, die sich davon eben nicht angesprochen fühlen.
Wir haben große Schattierungen innerhalb der jungen Generation. Die große thematische Präferenz am einen Ende des Spektrums ist wie bereits erwähnt umweltorientiert. Oft verbunden mit einer sehr starken Präferenz für die Partei die Grünen.
Und am anderen Ende des Spektrums?
Am anderen Ende des Spektrums haben wir junge Leute, die nicht so sozial privilegiert, nicht so gut gebildet sind. Die das Gefühl haben, dass sie sich erst einmal Sorge machen müssen um ihre eigene berufliche und wirtschaftliche Zukunft. Dort haben wir deutliche Ausschläge in Richtung von autoritären Positionen und der Ablehnung von Einwanderung. Die politische Heimat dieser jungen Menschen ist dann die AfD.
Bei der U18-Wahl konnte man sehen, dass die jungen Menschen in den unterschiedlichen Bundesländern völlig unterschiedlich wählen. Bundesweit liegen die Grünen vorne – aber wenn man zum Beispiel nach Sachsen schaut, liegt da die AfD vorne, in Niedersachsen die SPD, in Bayern die CSU. Hat die Wahlentscheidung also auch eine Länderkomponente?
Ja, es sieht so aus. Für viele 15- bis 17-Jährigen spielt auch die politische Richtung der Eltern eine Rolle. Sie treffen ihre Wahl nach vertrauten politischen Themen und Gesichtern. Das Elternhaus ist generell ein wichtiger Orientierungspunkt. Dadurch lassen sich die regionalen Unterschiede, die es bei der richtigen Wahl gibt, eben auch bei der U18-Wahl erkennen.
Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im August, gaben die meisten jungen Menschen an, niemanden der Kanzlerkandidaten wählen zu wollen. Warum kommen weder Baerbock noch Laschet oder Scholz so richtig gut an?
Junge Menschen haben eine viel größere Angst, ihr Kreuz zu setzen als ältere. Sie fragen sich, ob sie gut genug informiert sind. Lesen die Wahlprogramme. Machen sich Gedanken darüber, wie das parlamentarische System überhaupt funktioniert. Und diese hohen Maßstäbe legen sie auch an Personen an. Und sich so genau auf eine einzelne Person vorzubereiten, dass man sich auf sie festlegen kann, ist schwierig.
Haben junge Menschen also Angst davor, eine falsche Wahlentscheidung zu treffen?
Ja, das ist einer der Faktoren. Ein weiterer ist natürlich, dass man nicht so richtig weiß, ob man mit einer Stimme etwas beeinflussen kann. Auch da sind die jungen Leute empfindlicher als die älteren. Sie wollen, wenn sie ihre Stimme abgeben, ganz genau wissen, dass sie zählt.
Das heißt, so offen wie sich der Wahlkampf aktuell gestaltet, können wir dieses Jahr mit einer relativ hohen Wahlbeteiligung der unter 30-Jährigen rechnen.
Ich würde vermuten ja. Mehrheitlich findet sich die junge Generation zwar bei den Grünen wieder. Sie könnten sich aber auch überlegen, taktisch zu wählen und die Stimmen zwischen rot und grün verteilen, dass möglichst gute Effekte entstehen. So könnte eine relativ kleine Gruppe in der Bevölkerung durch geschicktes Wahlverhalten durchaus Einfluss nehmen.
Das politische Personal ist in der Mehrzahl fast doppelt so alt wie die jungen Wähler. Was bedeutet dieses Altersungleichgewicht?
Das ist ein Problem, weil damit ja die Gesamtbevölkerung nicht repräsentiert wird, was eigentlich die Idee des Parlaments ist. Wir haben große Ungleichgewichte zwischen Männern und Frauen, die zum Glück immer wieder thematisiert werden. Genauso gibt es beim Alter, dem Beruf und der Herkunft ein großes Ungleichgewicht. Wie bei der Geschlechtergerechtigkeit sollte auch bei allen anderen Merkmalen darauf geachtet werden, dass sie gleichberechtigt repräsentiert sind. Zum Beispiel durch eine Generationengerechtigkeit.
Bei der SPD stehen in diesem Jahr so viele junge Menschen auf dem Wahlzettel wie noch nie. Auch bei der FDP und bei den Grünen gibt's immer mehr junge Leute, die auf einen Platz im Parlament hoffen dürfen. Was kann dieser erste Wechsel bedeuten?
Das wird hoffentlich dazu führen, dass sich die Wahllisten auch in der Zusammensetzung des Parlamentes niederschlagen. Dann hätten wir die Gewissheit, dass die junge Bevölkerung sich besser repräsentiert fühlt. Und wir könnten hoffen, dass diese jüngeren Abgeordneten die Themen aufnehmen, die für die jungen Leute von Bedeutung sind.
Welche Themen wären das?
Umweltschutz und Klimawandel natürlich, aber auch berufliche Perspektiven, wirtschaftliche Sicherheit. Genauso internationale Beziehungen. Terror, Krieg und Frieden. Chancengleichheit, soziale Ungerechtigkeit und die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Man könnte sagen, die großen Themen dieser Zeit. Diese Themen stehen schon seit 20 oder 30 Jahren auf der Agenda, je nach aktueller Krise mit unterschiedlichen Gewichtungen. Für die meisten ist momentan das treibende Thema eben die Klimakrise.
Und für andere weiterhin die soziale Frage.
Und die suchen dann auch nach einer Partei, die diese zum Thema macht. Da hat die AfD gepunktet. Es kann aber sehr spannend werden, nämlich dann, wenn Olaf Scholz und die SPD mit ihrem scharf profiliertem Wahlkampf und Programm an diese Gruppe herankommen können.
Sollte die SPD es tatsächlich schaffen, der AfD junge Wähler abzugreifen, hätte sie einiges richtig gemacht.
Ja. Es wird in jedem Fall eine spannende Auswertung in diesem Wahljahr.