Antisemitismus-Forscherin: Nach dem Hamas-Überfall ist das Klima "toxischer geworden"
Zwei Jahre nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 ist der Nahostkrieg längst zu einem globalen Brennglas geworden, etwa für Hass und alte Feindbilder. Selbst Popstars geraten ins Visier: In Istanbul wurde ein Konzert von Robbie Williams abgesagt, nachdem Online-Proteste gegen seine angeblich "jüdischen Familienbezüge" laut wurden.
Was sagt dieser Fall über den Zustand der Gesellschaft? Und wie hat der Krieg in Gaza die Dynamik des Antisemitismus verändert? Ein Gespräch mit Historikerin Dr. Juliane Wetzel, die mehr als 30 Jahre am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin gearbeitet hat.
Watson: Frau Wetzel, zwei Jahre jährt sich der brutale Hamas-Angriff auf Israel: Hat der 7. Oktober 2023 den weltweiten Antisemitismus verändert?
Juliane Wetzel: Ich würde sagen, er hat ihn verstärkt und sichtbarer gemacht. Antisemitismus war nie weg, aber nach jedem gewaltsamen Konflikt in Israel steigt er messbar an, das lässt sich über Jahrzehnte belegen. Nach dem 7. Oktober hat sich das noch einmal potenziert. Der Antisemitismus ist in vielen gesellschaftlichen Räumen wieder anschlussfähig geworden.
Direkt nach dem Angriff schien die Solidarität mit Israel hierzulande groß. Inwiefern ist die Stimmung umgeschlagen?
Ich bin mir gar nicht sicher, ob diese Solidarität wirklich so groß war, wie es den Anschein hatte. Natürlich haben sich Politiker, Minister, Bürgermeister klar positioniert. Aber viele Jüdinnen und Juden – in Deutschland wie international – haben diese Solidarität im Alltag vermisst. Viele waren enttäuscht über das Schweigen oder die Relativierungen, vor allem aus Teilen der politischen Linken.
Gleichzeitig nahmen die pro-palästinensischen Demonstrationen rasant zu. Wann kippt durchaus legitime Kritik in Antisemitismus?
Natürlich kann und muss man die israelische Regierungspolitik kritisieren dürfen. Aber viele Parolen, die wir seit Oktober hören, überschreiten diese Grenze deutlich. Wenn auf Demos "Kindermörder Israel" skandiert wird, ist das kein politisches Statement, sondern ein antisemitisches Narrativ – eines, das auf die alte Ritualmordlegende zurückgeht.
Wie erkennt man den Unterschied?
Es kommt immer auf den Kontext an: Wer sagt was, mit welchem Ziel? Wenn etwa Sprüche auftauchen wie "Free Palestine from German Guilt" – also die Aufforderung, sich endlich vom historischen Schuldkomplex zu befreien –, dann ist das Holocaustverzerrung, keine Kritik an Politik.
Der Fall Robbie Williams ist aktuell viel diskutiert. Wie ordnen Sie das ein?
Das ist für mich ganz klar antisemitisch. Hier geht es ja nicht um seine Haltung zu Israel, sondern um die bloße Zuschreibung "jüdischer Nähe". Wenn schon eine vermeintliche Familienverbindung genügt, um jemanden zur Zielscheibe zu machen, zeigt das, wie normalisiert der Verdacht gegen alles Jüdische wieder geworden ist. Und solche Fälle gibt es viele: Wenn israelische Dirigenten oder Wissenschaftler ausgeladen werden, weil sie sich angeblich nicht klar genug von Netanjahu distanzieren, dann hat das nichts mit Kritik zu tun, sondern mit kollektiver Schuldzuschreibung.
Viele sagen, Netanjahus Vorgehen befeuere Antisemitismus. Ist das eine gefährliche Verschiebung der Verantwortung?
Das sehe ich so. Natürlich kann man und muss man Netanjahu kritisieren, ich tue das selbst. Wer jetzt den Hass auf Jüdinnen und Juden mit Israels Regierungspolitik rechtfertigt, verschiebt die Schuld vom Täter auf das Opfer.
Erleben Sie auch, dass sich der Hass zunehmend gegen Jüdinnen und Juden als Privatpersonen richtet, unabhängig von der eigenen politischen Einstellung?
Ja, das passiert. Aber man muss genau hinsehen. Es gibt eine Grauzone: Manche Menschen werden angegriffen, weil sie Jüdinnen oder Juden sind – andere, weil sie Israelis sind und man ihnen Israels Politik zuschreibt oder unterstellt, sie würden sie unterstützen. Das sind unterschiedliche Motive, auch wenn sie sich in der Praxis immer stärker überlagern. Viele erleben, dass sie sich ständig rechtfertigen müssen – egal, was sie tatsächlich denken oder sagen. Und das ist ein gefährlicher Trend, weil es jede offene Diskussion erstickt.
Erleben Sie persönlich in Ihrem Umfeld antisemitische Reaktionen?
Nein, persönlich nicht. Ich engagiere mich ja stark in der Bildungsarbeit, unter anderem im Vorstand der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Da erlebe ich im Gegenteil viel Zuspruch. Aber natürlich sehe ich: Wer sich heute öffentlich gegen Antisemitismus engagiert oder für Dialog wirbt, muss sich oft rechtfertigen, gegenüber der einen wie der anderen Seite. Das Klima ist toxischer geworden.
Wie erleben Sie die Situation in der Bildungsarbeit seit dem 7. Oktober?
Wir werden überrannt mit Anfragen, vor allem aus Schulen. Das zeigt, dass es ein echtes Bedürfnis gibt, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Viele Lehrkräfte fühlen sich völlig überfordert. Der Nachholbedarf in der Bildungsarbeit ist enorm. Bildung muss bei allen anfangen: bei Lehrkräften, Schüler:innen, in Familien. Und sie darf eben nicht einseitig sein. Es geht nicht darum, nur "die anderen" zu schulen, sondern die gesamte Gesellschaft. Ich halte nichts davon, wenn immer wieder so getan wird, als käme Antisemitismus von außen.
Sie meinen den viel zitierten "importierten Antisemitismus"?
Genau. Dieses Narrativ ist eine gefährliche Verkürzung. Natürlich gibt es auch unter Muslimen oder Menschen aus arabischen Ländern antisemitische Einstellungen, so wie in allen anderen Gruppen auch. Aber der größte Teil der antisemitischen Straftaten in Deutschland kommt nach wie vor aus dem rechtsextremen Milieu. Das wird viel zu oft ausgeblendet. Wenn man so tut, als wäre Antisemitismus nur ein Problem der Einwanderung, verschiebt man die Verantwortung und blendet den tief verankerten einheimischen Judenhass einfach aus. Deshalb braucht es Aufklärung auf allen Ebenen: in Schulen, in der Gesellschaft, in politischen Institutionen.
Wie groß ist der Einfluss von Social Media auf die aktuelle Welle des Antisemitismus?
Ein katastrophal großer. Soziale Netzwerke verstärken antisemitische Narrative enorm, weil sie sich dort endlos reproduzieren. Und wer sich einmal in einer Bubble befindet, kommt schwer wieder heraus. Der Algorithmus füttert Nutzer mit immer mehr von ähnlichen Inhalten. Und die antisemitischen Narrative von früher halten sich. Was damals auf Flugblättern stand, ist heute ein virales Meme. Antisemitismus ist wandelbar – er passt sich an neue Medien und neue Krisen an.
Inwiefern?
Wir sehen, wie alte Verschwörungsmythen einfach neu verpackt und auf Plattformen wie Tiktok oder X millionenfach geteilt werden, zum Beispiel die Erzählung von den "reichen Juden und Jüdinnen". Das zu erkennen und zu entschlüsseln, gehört heute zur politischen Bildung.
Was müsste jetzt passieren, um diese Entwicklung zu stoppen?
Allen voran Bildung. Und zwar bei Lehrkräften, nicht nur bei Schülern. Viele wissen gar nicht, wie man antisemitische Codes oder Bildsprache im Netz erkennt. Hinzu kommt, dass man den Dialog stärken muss, statt ihn aufzugeben.
Wie kann das in der Praxis aussehen?
Wir versuchen, Begegnungsräume zu schaffen – etwa zwischen israelischen und palästinensischen Communitys hier in Berlin. Austausch ist enorm wichtig. Ein gutes Beispiel ist das israelisch-palästinensische Restaurant Kanaan. Aber viele trauen sich gar nicht mehr, dort essen zu gehen oder an solchen Gesprächen teilzunehmen, weil sie Angst haben, sich positionieren zu müssen. Das ist fatal. Wenn Menschen aus Angst vor Polarisierung aufhören, miteinander zu sprechen, hat der Hass gewonnen.