Omar Alkadamani war zwölf, als er mit seiner Familie von Syrien nach Deutschland flüchtete. Als Druse gehört er einer religiösen Minderheit an und wurde in seiner Heimat Suweida vom "Islamischen Staat" (IS) und dem Assad-Regime verfolgt.
In Deutschland fasst er schnell Fuß, lernt die Sprache in wenigen Jahren und engagiert sich heute politisch, etwa beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Im Gespräch mit watson erzählt Omar, warum ihm die islamistische Miliz HTS keine Sorgen bereitet und der Westen jetzt nicht naiv auf einen neuen Führer mit weißer Weste hoffen soll.
watson: Omar, Assad ist gestürzt. Wie frech wäre meine Frage, wann du nach Syrien zurückkehrst?
Omar: Sehr frech. Bei der Abschiebungsdebatte der Union und der FDP höre ich nur dumme Populisten. Erst warnen sie vor den Dschihadisten, nun wollen sie abschieben. Das sind "Mecker-Parteien". Die Forderung nach Abschiebung wird sich schnell in eine Bitte-Bleibt-Forderung verwandeln. Allein im Gesundheitswesen arbeiten viele Syrer.
Auch du hast dich seit 2017 fest in Deutschland etabliert.
Ich möchte mich auf alle Fälle in Syrien engagieren, werde mich aber nicht von Deutschland entbinden. Ich bin hier aufgewachsen, hier ist meine Heimat.
Was lösen die Ereignisse in Syrien in dir aus?
Ich bin verwirrt, erleichtert und müde. Ich habe kaum geschlafen, immerzu die Nachrichten verfolgt. In meiner Heimat Suweida ging es ja auch ab. Es ist, als würde ich gerade träumen. Es ist unvorstellbar!
Aber es ist real.
Ja, Assad ist Geschichte. Mit seinem Sturz erhalten die Syrer eine neue Dimension an Hoffnung.
Und doch ist die Zukunft Syriens mit der HTS ungewiss.
Die Mehrheit des Landes begrüßt die HTS laut der Devise: "Alles außer Assad". Es wird im Interesse der HTS sein, dass man in Syrien mit allem irgendwie klarkommt. Man will keinen neuen Krieg vom Zaun brechen. Alle sind kriegsmüde.
Dennoch werden die islamistischen Strömungen sehr stark sein. Wir können jetzt nicht erwarten, dass wir einen wahnsinnig westlich-geprägten Staat bekommen.
Was könnte das für die Syrerinnen bedeuten?
Bisher zeigt sich die HTS moderat. Das Rebellenkommando erklärte etwa am Montag, es werde den Frauen nicht vorschreiben, wie sie sich zu kleiden haben. Egal, wo in Syrien! Das Kopftuchgebot ist aufgehoben.
Man erinnert sich an die Taliban, die bei ihrer Machtübernahme auch erst versprach, Frauenrechte zu wahren.
Die HTS hat zwar viel Einfluss in Syrien, aber sie ist nicht die stärkste Kraft. Zudem werden die Leute es nicht mitmachen, sollten die Islamisten ihre Rechte überrennen. In Afghanistan gab es damals nicht diesen freien Atemzug für eine moderate Bewegung wie jetzt in Syrien.
Du hoffst auf den Druck durch die Zivilbevölkerung?
Die Syrer haben nicht 50 Jahre lang gegen die Unterdrückung durch den Assad-Clan gekämpft, um sich die Freiheit einfach wieder nehmen zu lassen. Zudem gibt es noch einen wichtigen Punkt.
Welchen?
Die verschiedenen Gruppierungen, die sich unter der HTS-Führung befinden, sind alle bewaffnet. Zuvor herrschte eine enorme Militär- und Polizeigewalt Assads gegen die Protestierenden. Mittlerweile sind aber auch die in Syrien lebenden Minderheiten bewaffnet. Dem HTS bleibt da nicht viel Spielraum.
Gilt das auch für die alawitische Minderheit, zu der Assads Familie gehört?
Es gibt mehrere große Herausforderungen gerade in Syrien. Das ist eine davon. Alawitische Soldaten haben über sunnitische Familien sehr viel Leid gebracht. Es wird dennoch meines Erachtens keine von der Regierung gesteuerte Rache-Angriffe gegen sie geben.
Aber?
Es kann zu sehr persönlichen Rachefeldzügen kommen. Gerade die Menschen, die in Assads Gefängnissen unvorstellbare Gewalt erfahren haben, werden sehr rachsüchtig sein. Die Familien kennen sich untereinander. Man weiß, wer was wann wem angetan hat. Aber was zählt: Es wird nicht schlimmer als unter Assad.
Gerade gehen die Bilder von den grausamen Bedingungen in Assads Gefängnis Saidnaya um die Welt.
In diesen unterirdischen Zellen wurden Menschen teils ein halbes Leben lang festgehalten. Die Geschichten der Betroffenen und Videoaufnahmen zeigen, die Realität ist tausendmal schlimmer als angenommen. Es ist ein unvorstellbares Leid, das unter Assad geschehen ist. Das blendet man aus, indem man sagt, "aber die HTS ist schlecht".
Die Entwicklung in Syrien ist dazu einfach zu komplex?
Richtig. Es ist naiv und westlich, jetzt zu sagen, man erwarte in Syrien einen Anführer mit weißer Weste, der nach allen demokratischen Vorstellungen sämtliche freiheitliche Rechte umsetzt. Das gibt es nicht. Die Region hat zu viel Leid und Ungerechtigkeit erfahren, um das in kürzester Zeit zu ermöglichen.
In Syrien wird es auf Anhieb keinen super funktionierenden Staat geben.
Wie kann der Westen Syrien unterstützen?
Das Rote Kreuz sollte psychische Angebote für die stark traumatisierten Menschen bereitstellen. Ich hoffe auf die Hilfe von Organisationen für Zivilschutz. Dass zum Beispiel die deutsche Zivil- und Katastrophenschutzorganisation, das Technische Hilfswerk, seine Hilfe bei der Suche nach den versteckten Gefängnissen anbietet.
Die Syrer dürfen jetzt nicht von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen werden.
Deutschland sollte sich aktiv in Syrien engagieren?
In Syrien entstehen gerade Freiräume, die muss man ergreifen. Wir haben einen Staat, der sich neu aufbaut. Jeder Tag, der vergeht, ohne dass sich Deutschland einmischt, heißt mehr Macht für andere – darunter auch Unrechtstaaten.
Syrien befindet sich in einer verletzlichen Lage.
Und das wird bereits ausgenutzt. Man schaut etwa auf die Türkei und Israel. Selbst für Russland ergeben sich Chancen.
Inwieweit?
Dass der Kreml Assad Asyl gewährt, ist nicht, weil sie ihn so lieb haben, sondern um sich ein Druckmittel zu verschaffen. Sie könnten Assad ausliefern, um etwa Gebiete zu behalten. Wenn sie mit ihm fertig wären, hätte sie ihn schon umgebracht.