Ernsthaft? Kaum waren die ersten Meldungen von der Flucht des syrischen Machthabers Baschar al-Assad zu lesen, waren sie schon da: Die Forderungen nach einer Veränderung der Asylpolitik bei Syrer:innen in Deutschland.
Zunächst waren gehässige Stimmen auf Social Media zu lesen, nur wenige Stunden nach Bekanntwerden des Machtwechsels. Auch einige Politiker:innen hielten sich schnell nicht mehr zurück.
Sie debattieren über die Rückführung von Menschen nach Syrien, noch während viele von ihnen – auch in Deutschland – den Sturz des Diktators feiern.
Ein Unding, zum absoluten falschen Zeitpunkt. Diese Diskussionen zeigen politische Ignoranz und massive Empathielosigkeit, während die Zukunft Syriens mehr als fraglich ist.
Die Bilder von den vielen Menschen auf den Straßen dieser Welt sind herzerwärmend. Sie feiern, tanzen und singen, einige weinen vor Freude.
In Syrien – aber auch an zahlreichen weiteren Orten dieser Welt – versammeln sich die Menschen, um den Sturz Assads zu feiern: Des Menschen, der 24 Jahre lang an der Macht war und mit eiserner Hand regierte. Des Diktators, unter dessen Herrschaft es zu einer erschreckend hohen Zahl von Todesopfern kam.
Assad sicherte sich mit Massenhinrichtungen und Folter in Gefängnissen, kollektiver Bestrafung ganzer Dörfer und Stadtteile sowie dem Einsatz von Giftgas gegen die Zivilbevölkerung seine Macht jahrelang. Proteste schlug er brutal nieder, sperrte sogar Kinder ein.
Schätzungen zufolge wurden seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 über eine halbe Million Menschen getötet, Hunderttausende vertrieben: Ethnische und religiöse Minderheiten, Andersdenkende, Journalist:innen, aber auch andere gefährdete Menschen waren massiver Verfolgung ausgesetzt. Viele flohen.
Zahlreiche Syrer:innen, darunter Frauen und Kinder, kamen nach Deutschland. Ende 2023 lebten laut Ausländerzentralregister etwa 972.000 Menschen aus Syrien im Land. 711.650 von ihnen wurden als Schutzsuchende anerkannt.
Die sollen jetzt schnellstmöglich weg. Zumindest, wenn es nach der Meinung einiger Deutscher geht.
Denn während sich mit dem Sturz Assads für viele Syrer:innen eine lang gehegte Hoffnung erfüllt hat, wird mitten im Freudentaumel über die Asylpolitik diskutiert. Auf Social Media zuhauf zu finden: gehässige Beiträge und die Freude darüber, dass geflüchtete Menschen aus Syrien nun endlich wieder aus dem Land verschwinden könnten. Sie hätten jetzt ihr Recht auf Asyl verloren, so der Tenor.
Einige Politiker:innen stimmen in diese Diskussion mit ein, etwa aus der Union. Sie fordern, die Heimkehr von Geflüchteten zu unterstützen. Unionsfraktionsvize Jens Spahn sagte bei RTL/ntv: "Ich würde in einem ersten Schritt mal sagen, wir machen ein Angebot. Wie wäre es, wenn die Bundesregierung sagt: Jeder, der zurück will nach Syrien, für den chartern wir Maschinen, der bekommt ein Startgeld von 1000 Euro." Und CSU-Chef Markus Söder forderte einen Plan für eine Rückführung syrischer Geflüchtete: "Es muss sogar überlegt werden, wie eine stärkere Rückführung in die syrische Heimat vieler Menschen möglich ist."
Die AfD-Äußerungen lassen wir an dieser Stelle bewusst heraus.
Was bei vielen Forderungen vergessen wird: Es ist noch zu früh für derartige Diskussionen. Ja, Assads Sturz ist für viele Syrer:innen eine großartige Nachricht. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die führende Islamistengruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die Assad stürzte, mit Vorsicht zu genießen ist.
Aktuell verhandelt der Anführer, Muhammad al-Dscholani, nach übereinstimmenden Berichten bereits mit der Regierung über die Ausgestaltung des Machtwechsels. Er präsentiert sich betont gemäßigt, befreite Häftlinge aus Foltergefängnissen und verhandelt mit Minderheiten über deren Schutz. Er will nach eigenen Angaben nun friedlich Stabilität herstellen.
Alles positive Zeichen. Doch die Lage im Land ist instabil. Und die HTS ist aus der Al-Nusra-Front hervorgegangen, dem syrischen Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida. Diese Tatsache sollte nicht außer Acht gelassen werden. Zwar hat sich die HTS von den brutalen, dschihadistischen Praktiken distanziert. Letztlich kommt es jetzt aber auf die Taten an.
Die politische Zukunft Syriens ist derzeit noch völlig offen. Gesichert ist nur, dass Assad weg ist.
Wie wird es den Frauen ergehen? Wie Minderheiten und LGBTQIA+-Personen? Wird es wieder zu bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen und Kämpfen zwischen den einzelnen Rebellengruppen kommen? Welche internationalen Akteure werden sich wie einmischen? All das muss geklärt werden, bevor die Asyldebatte in Deutschland starten darf.
Einen Tag nach Assads Flucht aus Syrien ließ das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verlauten, bis auf Weiteres keine Asylanträge von Menschen aus Syrien mehr bearbeiten zu wollen, wie unter anderem der "Spiegel" berichtete. Wegen der politisch unübersichtlichen Lage könne man derzeit keine seriösen Entscheidungen treffen.
Betroffen sind laut der Behörde 47.270 Asylanträge von Syrer:innen, die noch nicht entschieden sind, darunter rund 46.000 Erstanträge.
Die EU-Kommission warnte am Montag vor allzu großen Hoffnungen auf schnelle und unproblematische Rückkehrmöglichkeiten für Geflüchtete nach Syrien. Die Bedingungen für eine sichere und würdevolle Rückkehr seien nach derzeitiger Einschätzung nicht gegeben, sagte ein Sprecher in Brüssel. Mit dieser Linie sei man sich einig mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR).
Die jetzigen Forderungen nach Abschiebungen und Rückführungen zeugen nicht nur von Empathielosigkeit, sondern auch von politischem Kalkül. Sie zeigen, dass es den Personen hinter dieser Rhetorik nicht um den ehrlichen Wunsch nach politischer Ruhe in dem völlig zerbröselten Land geht. Nicht um die Freude der Menschen, die unter der blutigen, brutalen Unterdrückung eines Verbrechers litten. Nicht um die Hoffnung auf ein besseres Leben. Vielmehr stehen egoistische Gründe im Vordergrund: schnellstmöglich diese Menschen als Ballast loszuwerden.
Der Wunsch nach weniger Belastung durch Migration ist in wirtschaftlich und politisch unsicheren Zeiten nachvollziehbar.
Doch es ist unbestritten, dass viele Syrer :innen sich eine Rückkehr in ihre Heimat wünschen – in ein Land, das endlich Frieden und Stabilität finden soll. Doch diese Zukunft liegt noch in der Ferne.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Diskussion über eine Rückkehr syrischer Geflüchteter jedoch nicht nur deplatziert, sondern auch gefährlich. Sie ignoriert die Realitäten in einem Land, dessen politische und gesellschaftliche Zukunft in der Schwebe ist. Die EU und der UNHCR haben deutlich gemacht: Es gibt aktuell keine sicheren Bedingungen für eine Rückkehr.
Was Syrien jetzt braucht, ist Stabilität – und was wir brauchen, ist Geduld und Menschlichkeit. Abwarten statt drängen. Wer vorschnell Druck aufbaut, gefährdet Leben und verspielt das Vertrauen der Menschen, die Schutz gesucht haben. Stattdessen sollte Deutschland ein Vorbild sein, indem es eine kluge, langfristige Politik verfolgt. Eine, die Menschenrechte und Versöhnlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Denn nie war das Brückenbauen in der jüngeren weltpolitischen Geschichte wichtiger als jetzt.