Im Februar 2020 hat es die FDP heftig erwischt. In Thüringen ließ sich der liberale Landtagsabgeordnete Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten wählen, unter anderem mit den Stimmen der AfD. Es folgte ein Aufschrei durch das politische Deutschland, Kemmerich trat binnen weniger Tage zurück. Und die FDP flog kurz darauf aus der Bürgerschaft in Hamburg – und hing danach monatelang weit unten in den Umfragen fest, gefährlich nah an der Marke von fünf Prozent.
Parteien, die weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen bekommen, fliegen in aller Regel aus dem Bundestag. Diese Gefahr ist für die FDP ziemlich sicher überstanden: Die Partei liegt bei Werten zwischen zehn und 13 Prozent, Parteichef Christian Lindner bewirbt sich selbstbewusst als Finanzminister und bekommt viel Zuspruch auf Wahlkampfterminen.
Wie hat die FDP das geschafft? Und warum ist sie – laut den Nachwahlbefragungen bei den Wahlen der vergangenen Jahre – besonders bei jungen Menschen beliebt? watson hat darüber mit Benjamin Höhne gesprochen, Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter des Instituts für Parlamentarismusforschung in Berlin.
Herr Höhne, in knapp zwei Monaten ist Bundestagswahl. Die politische Diskussion in Deutschland dreht sich stark um Union, Grüne, SPD. Aber in deren Schatten hat die FDP in einem Jahr ihre Umfragewerte mehr als verdoppelt: von rund fünf Prozent im August 2020 auf heute 10 bis 13 Prozent. Hat Sie diese Aufholjagd überrascht?
Es ist auf jeden Fall bemerkenswert. FDP-Chef Christian Lindner ist es während der Pandemie gelungen, Unzufriedenheit mit den Corona-Maßnahmen in der Bevölkerung parteipolitisch zu kanalisieren. Der Partei ist eine Gratwanderung gelungen.
"Die FDP hat sich als einzige Partei neben der AfD als Kritikerin der Corona-Eindämmungspolitik profiliert."
Inwiefern?
Einerseits hat die FDP der Bund-Länder-Konferenz mit angehört, die über Monate die Pandemiepolitik bestimmt hat. Die Liberalen sind ja an drei Landesregierungen beteiligt. Und somit hat die Partei wichtige Maßnahmen wie die Lockdowns mitgetragen. Andererseits hat die FDP sachliche, konstruktive Kritik geäußert. Diese Kritik war nie überzogen, wurde nicht populistisch. Die FDP hat sich als einzige Partei neben der AfD als Kritikerin der Corona-Eindämmungspolitik profiliert. Dies zeigen auch die Bevölkerungsumfragen, bei denen die FDP seit einiger Zeit recht gut dasteht. Das ist gerade für eine von vier Parteien, die nicht der Bundesregierung angehören, bemerkenswert.
Ist das ein reiner Corona-Effekt – oder kann die FDP dauerhaft profitieren?
Naja, dauerhaft ist grundsätzlich schwierig. Der Anteil der Stammwählerinnen und -Wähler, die sich stark mit einer Partei identifizieren, geht bei allen Parteien zurück. Bei der FDP sind das heute vielleicht noch ein, zwei Prozent der Bevölkerung: zum Beispiel Wählerinnen und Wähler, deren Eltern schon FDP gewählt haben, Apotheker oder andere Selbstständige. Aber es reicht eben nicht mehr, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Die FDP muss, wie alle anderen Parteien, Wechselwähler überzeugen, das Kreuz bei ihr zu machen.
FDP-Vize Wolfgang Kubicki ist einer der lautstärksten Kritiker der Corona-Maßnahmen in seiner Partei. Bild: Getty Images Europe / Stuart Franklin
Die zweite große Auffälligkeit bei der FDP: Sie ist überdurchschnittlich beliebt bei jungen Menschen. Das ergeben die Nachwahlbefragungen bei den jüngsten Landtagswahlen und bei der Europawahl 2019. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage liegt die FDP bei Menschen unter 30 bei 17 Prozent.
Das ist kein neues Phänomen. Die FDP hat auch schon vor 10, 20 Jahren bei jüngeren Menschen überproportional gut abgeschnitten.
"Die FDP schafft es – auch dadurch, dass sie den Parteichef Lindner so stark in den Fokus rückt – dass sie für junge Wähler anders erscheint, als sie es in den lokalen Ortsvereinen oft ist: eben jünger, weiblicher, moderner, digitaler."
Woran liegt das?
Das hat mehrere Ursachen. Es hängt mit der Ansprache und der Themensetzung zusammen: Die FDP legt großen Wert auf die Digitalisierung, ist in digitalen Medien und auf Social Media lebhaft vertreten. Sie schafft es – auch dadurch, dass sie den Parteichef Lindner so stark in den Fokus rückt – dass sie für junge Wähler anders erscheint, als sie es in den lokalen Ortsvereinen oft ist: eben jünger, weiblicher, moderner, digitaler.
Die FDP hat seit 2017 die durchschnittlich jüngste Bundestagsfraktion. Hinter Christian Lindner haben sich junge Abgeordnete einen Namen gemacht: Konstantin Kuhle, Johannes Vogel, Gyde Jensen, Benjamin Strasser, die wegen ihrer parlamentarischen Arbeit oft in den Medien sind. Wirkt das aus Ihrer Sicht bei jüngeren Wählern?
Das ist sicher auch ein wichtiger Punkt. Man kann nur schwer messen, welchen Effekt das hat. Aber in der FDP hat tatsächlich eine personelle Erneuerung in der vorderen Reihe stattgefunden, junge Politikerinnen und Politiker von der Landesebene wurden nach vorne gestellt. Dennoch ist die Partei wie keine andere derzeit auf ihren Bundesvorsitzenden ausgerichtet. In der zweiten Reihe gibt es ein paar jüngere Leute, die "bella figura" machen. Tricky ist das Thema Frauen bei der FDP.
"Den Frauenanteil in entscheidenden Positionen zu erhöhen, das hat die FDP nicht wirklich nachhaltig geschafft."
Sie meinen den niedrigen Frauenanteil. In der Bundestagsfraktion liegt er bei nur 22,5 Prozent, im Präsidium der Partei sind drei von 12 Mitgliedern Frauen.
Ja. Und einige der Frauen, die 2017 für den Bundestag kandidiert haben, treten nicht wieder an. Einige gehen wieder in die zweite, dritte Reihe zurück. Den Frauenanteil in entscheidenden Positionen zu erhöhen, das hat die FDP nicht wirklich nachhaltig geschafft. Dafür braucht es durchgreifende Maßnahmen wie eine Frauenquote.
Abtritt aus der ersten Reihe: Katja Suding legt ihre Ämter in der FDP nieder – und scheidet im Herbst aus dem Bundestag aus. Bild: dpa / Daniel Bockwoldt
Die lehnen viele Frauen in der FDP aber ab – und zwar gerade bei den Jungen Liberalen, weil sie die Quote als leistungsfeindlich sehen.
Das stimmt, deswegen ist eine Quote bei der FDP momentan auch nicht sehr wahrscheinlich. Aber auch junge Frauen in der FDP sehen, dass die Appelle, die Sonntagsreden und auch die gezielten Bemühungen von Christian Linder, Frauen nach vorne zu bringen, nicht so greifen, wie sie greifen müssten. Und diese Politikerinnen fragen sich auch: Was können wir noch tun? In der FDP nimmt der Frauenanteil unter den Mitgliedern ja sogar ab. Bei allen anderen Parteien, außer der Linkspartei, ist das anders. Das ist für die FDP schon eine latente Gefahr.
Was meinen Sie?
Frauen könnten die FDP bei Wahlen zunehmend ablehnen, wenn auf den Listen zu wenige Frauen prominent vertreten sind.
"Man will weiterhin eine Wirtschaftspartei sein, die dem freien Markt vertraut und dem Staat eher mit Misstrauen begegnet. Drumherum hat man aber neue Akzente gesetzt"
Jensen, Kuhle, Vogel, Strasser: Mehrere junge FDP-Abgeordnete, die 2017 neu in den Bundestag eingezogen sind, werden eher einem linksliberalen Flügel zugeordnet. Sie betonen den Kampf gegen Rassismus besonders stark, treten für Bürgerrechte und soziale Fragen ein. In den Jahren davor waren solche Positionen in der FDP weniger stark vertreten. Macht das die Partei für mehr Wähler attraktiv?
Es gab unter Lindner nach 2013, nachdem die FDP aus dem Bundestag gefallen ist, nicht nur eine personelle und organisatorische Erneuerung, sondern auch zum Teil eine programmatische. Man ist zwar beim neoliberalen Markenkern geblieben: Man will also weiterhin eine Wirtschaftspartei sein, die dem freien Markt vertraut und dem Staat eher mit Misstrauen begegnet. Drumherum hat man aber neue Akzente gesetzt: etwa in der Bildungspolitik und vor allem mit der Digitalisierung. Die Freien Demokraten, wie sie sich seither nennen, haben ihr Programm bunter gemacht. Deswegen würde ich aber noch keinen sozialliberalen oder linksliberalen Flügel ausmachen, wie er noch in den 1970er-Jahren existierte.
"Das, was sie 2017 gemacht hat – erst in Koalitionsverhandlungen eintreten und dann aussteigen – kann die Parteispitze nicht wiederholen."
Immer noch die zentrale Figur: Christian Lindner, Parteichef der FDP und Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Bild: dpa / Stefan Sauer
Sie haben im vergangenen Sommer mit ihrem Kollegen Uwe Jun einen Aufsatz zur FDP veröffentlicht. Sie haben der FDP darin ein Problem bescheinigt: Dass sie sich keine neuen Machtoptionen offenhalte. Jetzt hat FDP-Chef Lindner Wochen vor der Wahl recht deutlich gemacht, dass er deutlich lieber mit CDU und CSU in eine Jamaika-Koalition gehen würde – und deutlich weniger gern in eine Ampel mit SPD und Grünen. Schafft Lindner seiner Partei nicht da ein Problem für den Fall, dass es für eine Mehrheit mit der Union nicht reicht?
Naja, alle meine Gespräche mit FDP-Mitgliedern und auch die Umfragen unter FDP-Anhängern zeigen, dass die Union zumeist der Wunschpartner ist, gar keine Frage. FDP und Union stehen sich beim Programm näher – und auch beim politischen Habitus. So würde sich der typische 50- bis 60-jährige FDP-Politiker in einer Kneipe wohl besser mit einem Kollegen von CDU oder CSU verstehen als mit einem von den Bündnisgrünen. Wichtig ist aber auch: Es gibt keine eindeutige Aussage gegen eine Koalition ohne die Union. Druck kommt bei dieser Frage für die FDP noch von woanders.
Nämlich?
Das, was sie 2017 gemacht hat – erst in Koalitionsverhandlungen eintreten und dann aussteigen – kann die Parteispitze nicht wiederholen. Das würden die Mitglieder und die Anhängerinnen kaum erneut mittragen. Damals war das richtig, weil für die FDP in einem Jamaika-Bündnis mit Union und Grünen die große Gefahr bestanden hätte, zu wenig von ihrer Programmatik umzusetzen. Aber nach vier Jahren Opposition im Bundestag ist für viele die Zeit reif, wieder Regierungsverantwortung zu übernehmen. Regierungen zu ermöglichen, das war jahrzehntelang die klassische Funktion der FDP.
Sie meinen: Wie 2017 Christian Lindner nach Wochen der Verhandlungen auszusteigen und zu sagen, dass man lieber nicht mitregiert, kann sich die Partei gar nicht mehr leisten.
Nein, das kann sie eigentlich nicht. Und das wissen auch die Verhandlungspartner in den anderen Parteien diesmal. Sie wissen, dass der Druck in der FDP diesmal höher ist. Das ist für die Verhandlungsposition der FDP nicht gut, ihr Drohpotenzial ist geringer. Natürlich kann keine Partei zum Regieren gezwungen werden. Aber dann dürfte es schwieriger für Lindner als Parteichef werden.
SPD-Politiker Rolf Mützenich im Porträt: Verhältnis zu Merz, seine Ehefrau und sein Wohnort
Rolf Mützenich ist der Fraktionschef der SPD. In zahlreichen Debatten spricht er für seine Partei im Bundestag. Mützenich ist bekannt für seine Friedenspolitik, gleichzeitig half er aber auch bei der Durchsetzung des Sondervermögens für die Bundeswehr.