Die Wahl der neuen Verfassungsrichter:innen sollte dieses Mal ein großes Thema werden. Das war seit dem Ausgang der Bundestagswahl klar: Alle Kandidat:innen müssen vom Bundestag mit Zweidrittelmehrheit bestätigt werden, wobei zum allerersten Mal die AfD hätte entscheidungstragend sein können – die schwarz-rote Regierung hat keine Mehrheit. Nicht einmal mit den Grünen.
Doch das eigentlich relevante Thema, dass die Union endlich über ihren konservativen Schatten hätte springen und mit der Linken reden sollen, um das sicher zu verhindern, wurde in den vergangenen Tagen überschattet.
Kritiker:innen arbeiteten sich lieber an der SPD-Nominierung ab: Frauke Brosius-Gersdorf. Eine Kritik, die in ihrem Kern nicht nur völlig übertrieben ist, sondern auch ein bodenloses Ausmaß angenommen hat.
Am Freitag, dem Tag, an dem eigentlich alle drei Kandidat:innen im Plenum zur Abstimmung hätten stehen sollen, ist der Konflikt endgültig eskaliert. Die Union hat der SPD die Pistole auf die Brust gesetzt: Entweder die SPD setzt Brosius-Gersdorf ab, oder die Union wird die Wahl durch Enthaltung crashen.
Die Union will, wieder einmal, nur ihren eigenen Willen durchsetzen. Um von ihren eigentlichen Motiven abzulenken, kommt ihnen ein aufgekeimter Plagiatsvorwurf natürlich sehr gelegen.
Aber wir beginnen mal ganz von vorn. Bei der Person, um die es geht. Wer ist Frauke Brosius-Gersdorf? Und warum scheint sich plötzlich die ganze Nation für eine potenzielle Richterin des Bundesverfassungsgerichts zu interessieren? Normalerweise, das muss man sagen, kennt der ganz überwiegende Teil der Gesellschaft wohl keinen einzigen der 16 Richter:innen.
Ihr Lebenslauf ist der einer erfolgreichen Juristin. Sie ist Professorin für Öffentliches Recht, Schwerpunkt: Verfassungsrecht. Rund zehn Jahre hat sie an der Universität Hannover gelehrt, 2021 dann der Wechsel an die Juristische Fakultät der Uni Potsdam.
Sie ist Expertin auf ihrem Gebiet. Und wie das mit Expert:innen so ist, werden sie angefragt: Für Interviews in Zeitungen und TV-Formaten, um eine fachliche, in diesem Fall juristische Einschätzung abzugeben.
Auch die Bundesregierung ist auf Expert:innen angewiesen, wie etwa bei der Frage einer möglichen rechtlichen Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen. Die Ampel-Regierung hatte dazu eine Expert:innen-Kommission eingesetzt. Brosius-Gersdorf war Teil davon.
Das wird ihr nun negativ ausgelegt. Leider kommt das nicht überraschend, denn beim Thema Schwangerschaftsabbrüche wird eine kleine Gruppe plötzlich sehr, sehr laut: Radikale Abtreibungsgegner:innen. Dann auch die AfD und, ach ja, die Union natürlich.
Schwangerschaftsabbrüche sind ein Politikum und so ist auch die Nominierung von Frauke Brosius-Gersdorf heftig politisiert worden.
Begonnen von denjenigen, die Schwangerschaftsabbrüche am liebsten komplett verbieten würden: selbsternannten Lebenschützer:innen. Die haben laut dem Soziologen Andreas Kemper einen "großen Einfluss in der Unionsfraktion", sagt er im Interview mit der "Taz". Ihm zufolge sollen die sogenannten "Christdemokraten für das Leben" schon Anfang des Monats die Union aufgefordert haben, Brosius-Gersdorf nicht zu unterstützen.
Bei der Union fällt das auf fruchtbaren Boden: Das Thema ist bei CDU und CSU ein schwieriges. So waren es auch Unions-Abgeordnete, die mit ihrer Meinung zu Brosius-Gersdorf in der "FAZ" an die Öffentlichkeit gegangen sind. Anonym wohlgemerkt, denn man will ja weder die eigene Partei noch den Koalitionspartner verärgern.
Die reproduktiven Rechte hatten seit Beginn von schwarz-rot das Potenzial, die Koalition zu belasten. Die SPD fährt bei dem Thema einen deutlich progressiveren Kurs, man wird hier nur schwer jemanden finden, der nicht zumindest für eine Überprüfung der derzeitigen Rechtslage ist. Anders die Union. Die würde das Thema vermutlich am liebsten ausmerzen. Für Abgeordnete ist Brosius-Gersdorf dann gleich mal eine "ultralinke Juristin" und "niemals wählbar".
Solche Worte können nur von Leuten kommen, die sich mit der juristischen Debatte um Schwangerschaftsabbrüche noch nie wirklich beschäftigt haben. Die Ausführungen der Juristin können sie ebenfalls nicht gelesen haben.
"Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt." Das ist der viel beachtete Satz aus dem Bericht der Kommission.
Doch in dem Bericht steht deutlich mehr. Sie hat sich sehr ausführlich, seitenlang, mit der derzeitigen Rechtslage beschäftigt, die Debatte erklärt und verschiedene Meinungen dargestellt. Das spricht für sie und ihre Kompetenz. Ihr Fazit fällt im Endeffekt auch deutlich differenzierter aus, als es derzeit dargestellt wird: Sie plädiert für eine sorgfältige Abwägung je nach Stadium der Schwangerschaft. Das ist weder ausgefallen noch skandalös.
Schwangerschaftsabbrüche. AfD-Verbotsverfahren. Frauenquote: Das sind Themen, zu denen sich Brosius-Gersdorf aus einer juristischen Sicht geäußert hat. "Alles in allem bewegen sich die Positionen aber in einem verfassungsrechtlichen Rahmen, in dem es um politische Auseinandersetzung geht", schreibt der stellvertretende Chefredakteur Markus Sehl vom Rechtsmagazin "LTO".
Kernthemen der Union sind es jedenfalls nicht, sie werden eher von SPD, Grünen und Linken vorangetrieben, sind also linker als die Union. Was nicht schwer ist. Brosius-Gersdorf deshalb aber "ultralinks" zu nennen, zeigt vielmehr, wie die Union nach rechts gerückt ist.
Skandalös ist auch, dass die Union offenbar nicht damit klarkommt, wenn sie auch nur im Entferntesten wittert, ihre eigenen Ansichten nicht durchbringen zu können.
Um ihren Willen zu bekommen, haben sie es sogar darauf ankommen lassen, dass die Verfassungsrichter:innen-Wahl platzt. Sie begründeten das nach ihrer Sitzung am Morgen mit plötzlich aufgetauchten Plagiatsvorwürfen gegen Brosius-Gersdorf.
Für die Union kommen die Vorwürfe von Stefan Weber, der in den Medien auch "Plagiatsjäger" genannt wird und der schon Arbeiten vieler bekannter Personen untersucht hat und umstritten ist, wie eine Recherche des "Spiegel" aufzeigt, zur passenden Zeit. Was an den Vorwürfen dran ist oder auch nicht, wird jetzt erst einmal geprüft werden.
Klar ist aber: CDU und CSU haben mit ihrem Verhalten mutwillig dem Ansehen des Bundesverfassungsgerichts geschadet. Dem höchsten deutschen Gericht, eine Instanz, die in der Bevölkerung großes Vertrauen genießt. Zum Glück!
Nach außen wurde nun der falsche Anschein erweckt, dass eine Kandidatin möglicherweise nicht kompetent genug ist, juristisch fundierte Entscheidungen, wohlgemerkt im Kollektiv, zu treffen. Bei Günter Spinner, dem eigenen Kandidaten, hätten sie riskiert, dass immer die Frage im Raum gestanden hätte, ob die AfD seine Wahl wohl mitbestimmt hätte.
Jetzt wird am Freitag keiner mehr gewählt. Die Sommerpause beginnt mit einem Knall und die Koalition geht angeknackst in die Sommerpause.
Wie die SPD künftig mit der Union, die ihr in der bisherigen Regierungszeit schon mehrfach auf der Nase herumgetanzt ist, umgehen will, bleibt abzuwarten. Es bleibt zu hoffen, dass es nicht folgenlos bleibt. Doch die SPD bleibt eben auch die SPD.