Die Bundesregierung, allen voran die Union um Kanzler Friedrich Merz, wird immer wieder erbarmungslos daran erinnert, wie fragil die Mehrheitsbildung vor ein paar Monaten war: Union und SPD haben im Bundestag zusammen 328 Sitze. Das sind lediglich 52 Prozent. Nur eine schwache Mehrheit.
Wichtige Entscheidungen wie die Wahl der Richter:innen für das Bundesverfassungsgericht kann schwarz-rot damit nicht alleine treffen. Selbst bei einer Zusammenarbeit mit den Grünen reichen die Stimmen noch nicht für die rettende Zweidrittelmehrheit aus. Linke und AfD haben eine Sperrminorität.
Für die Union ein Dilemma. Ein Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU von 2018 lehnt die Zusammenarbeit mit beiden Parteien ab.
Die konservativen Politiker:innen müssen sich entscheiden: Gehen sie einen Schritt auf die in der Partei verhasste Linke zu? Oder riskieren sie, dass die vom Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextrem" eingestufte AfD wichtige Entscheidungen mit ihren Stimmen erst möglich macht?
Vor dieser Frage stehen sie auch bei der bevorstehenden Wahl der Richter:innen. Ihnen bleiben nur noch wenige Tage, um eine Antwort zu finden – und der Koalitionspartner, die SPD, sitzt ihnen im Nacken.
Am Montagabend standen drei Personalien für die Nachfolge scheidender Verfassungsrichter:innen im dafür eingerichteten Wahlausschuss zur Entscheidung. Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold wurden von der SPD und Günter Spinner von der Union vorgeschlagen.
Alle drei bekamen die nötige Zweidrittelmehrheit im aus zwölf Mitgliedern bestehenden Wahlausschuss des Bundestags Eine Mehrheit könnte hier auch ohne Linke und AfD zusammenkommen.
Doch der Bundestag muss die Vorschläge bestätigen, ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit. Dafür braucht es im Zweifel – und täglich grüßt das Murmeltier – Stimmen der Linken.
Bisher hat die CDU diese Tatsache weitestgehend ignoriert, verlässt sich darauf, dass die Linke Günter Spinner aus staatspolitischer Verantwortung schon wählen wird. Auch ohne vorheriges Gesprächsangebot.
Spinner, der bisher Richter am Bundesarbeitsgericht ist, wurde vom Bundesverfassungsgericht selbst vorgeschlagen. Die Union hat sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht – wohl auch aus der Überlegung heraus, dass die Linke den Vorschlag dann nicht ablehnen kann, mutmaßt unter anderem die "Taz".
Doch die Linke beharrt weiter auf Gespräche mit der Union. "Da es null Gespräche gibt, sehe ich nicht, dass wir heute Abend den von der CDU vorgeschlagenen Mann wählen", erklärt der Linken-Vorsitzende Jan van Aken am Montag. Bisher habe die Union keinen Kontakt aufgenommen.
Sollte die Union auch in den kommenden Tagen keinen Schritt auf die Linke zugehen, erscheint es zumindest fraglich, dass diese am Freitag für Günter Spinner stimmen wird.
Laut einem Bericht der "Zeit" glauben manche Rechtsexpert:innen in der Union, dass es im Zweifel auch ohne die Linke gehen könnte. Die Zweidrittelmehrheit bezieht sich nämlich nicht auf alle 630 Bundestag-Mitglieder, sondern auf die an dem Tag anwesenden Abgeordneten.
Das wäre eine gewagte und gefährliche Strategie, denn die AfD könnte sich entscheiden, für den CDU-Vorschlag zu stimmen und damit für die notwendige Zweidrittelmehrheit sorgen. Am Montagnachmittag erklärte AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel, man werde den Unions-Kandidaten stützen.
Eine Wahl mit den Stimmen der AfD ist ein Szenario, dass sich die Union eigentlich nicht erlauben kann. Sie würde damit für erhebliche Spannungen innerhalb der Regierung sorgen, heißt es in der SPD, wie "ntv" berichtet.
Die Linke oder die AfD? – Wie sich die SPD hier entscheiden würde, ist schließlich offensichtlich. Die AfD müsse man politisch "kleinkriegen", sagte SPD-Chef Lars Klingbeil der "Bild am Sonntag". Bei ihrem Parteitag haben die Sozialdemokart:innen jetzt sogar beschlossen, ein Verbotsverfahren gegen die AfD voranzutreiben.
Die SPD ist auch offen gegenüber der Forderung der Linken, ein Vorschlagsrecht bei der Nominierung von Bundesverfassungsrichter:innen zu bekommen. Bisher gilt die 3:3:1:1-Formel: Pro Senat durften CDU/CSU und SPD drei Verfassungsrichter:innen vorschlagen, Grüne und FDP einen. "Warum die FDP jetzt noch ein Zugriffsrecht haben soll und wir nicht, erschließt sich mir nicht", sagt Aken im Interview mit der "Rheinischen Post".
SPD-Parlamentsgeschäftsführer Johannes Fechner kritisiert zwar, die Linke würde hier vorpreschen, erklärt gegenüber dem "RND" aber auch:
Die Haltung zur Linken ist bei der SPD also eine komplett andere, so viel kann man festhalten. Man mag sich nicht vorstellen, was innerhalb der Koalition los ist, wenn im schlimmsten Fall am Freitag ein Verfassungsrichter erstmals nur mit Stimmen der AfD gewählt werden würde.
Streit bahnt sich zwischen Union und SPD vor der Wahl auch an anderer Stelle an. Wegen der von der SPD nominierten Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf. "Faz" und "Bild" berichten von Widerständen – ausgerechnet beim Koalitionspartner, der Union. Sie sei eine "ultralinke Juristin" und "niemals wählbar", zitiert die "FAZ" Abgeordnete.
Namentlich genannt werden wollte in den Berichten aber wohl niemand. Nur die Brandenburger CDU-Abgeordnete Saskia Ludwig bezeichnete die angesehene Juristin auf X offen als "unwählbar". Ludwig bewegt sich aber innerhalb der CDU am rechten Rand und ist damit wohl keine repräsentative Stimme.
Trotzdem: Die Debatte um Frauke Brosius-Gersdorf ist losgetreten. CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann versucht sich im Beschwichtigen. "Bei den Richterwahlen für das Bundesverfassungsgericht geht es um die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie", sagte Hoffmann der "Augsburger Allgemeinen".
Er ruft für "ein geschlossenes Votum der Parteien der Mitte" auf und appelliert an die Abgeordneten von CDU und CSU, die Vorschläge der SPD trotz kritischer Stimmen mitzutragen.
Es wäre nichts gewonnen, wenn der Unions-Kandidat scheitere, weil die SPD-Kandidatinnen scheiterten, sagt er. "Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag sind so, dass wir unseren Wunschkandidaten nur im Paket mit weiteren Personalentscheidungen durchsetzen können."
Am Montagabend im Wahlausschuss und bei einer Nominierung der Juraprofessorin dann auch im Plenum wird sich zeigen, ob die Mahnung gefruchtet hat.
Doch eins verdeutlicht die bevorstehende Wahl der Verfassungsrichter:innen der Bundesregierung schon jetzt, und zwar ganz schonungslos: Sie hat keine Zweidrittelmehrheit. Und Union und SPD gehen damit völlig unterschiedlich um. Es bleibt abzuwarten, wie die Koalitionspartner damit auf Dauer umgehen wollen.