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Ein Jahr Ukraine-Krieg: Ein Kampf um Sichtbarkeit

A woman walks into a metro station in downtown Kyiv, Ukraine, Thursday, Feb. 23, 2023. (AP Photo/Thibault Camus)
Ein Jahr Krieg – und wir alle verlieren den Blick für das Wesentliche: die Menschen.Bild: AP / Thibault Camus
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Kampf um Sichtbarkeit

Die Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine war in den ersten Monaten groß. Anfangs aus Schock. Dann aus Mitgefühl. Dann aus Angst. Heute brauchen wir Skurrilität und Blut, um hinzusehen. Ein Kommentar.
24.02.2023, 07:4724.02.2023, 13:40
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365 Tage Krieg in der Ukraine. Der 24. Februar wird auf ewig ein Tag sein, an dem sich die Menschen daran erinnern, wo sie saßen, wie sie sich fühlten, als sie die Nachricht lasen: Bomben in mehreren ukrainischen Städten, russische Soldaten rücken nach Kiew vor.

Dieser Krieg kam mit Ankündigung. Er war ja schon da. Im Donbass. Seit 2014. Journalist:innen versuchten weltweit, Aufmerksamkeit dafür zu schaffen. Doch viele wollten es nicht wahrhaben. Für Beobachter:innen war der Einmarsch die Folge aus dem, was der russische Diktator Wladimir Putin jahrelang vorbereitet hatte. Inklusive Propaganda.

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Drei Tage vor der entscheidenden Nacht hatte Putin ein Dekret unterschrieben, in dem er die Separatistengebiete in der Ostukraine als Volksrepubliken anerkannte. Damals schon war meine Auffassung, dass er diesen Krieg will – und der Welt mit diesem Dekret ein Versprechen gab. Ich nannte es damals ein diplomatisches Kriegsversprechen.

Dass er es wahrmachen würde, wollte ich dennoch nicht glauben.

Putin hat seine Ziele aber nie geheim gehalten. Wie auch? Monatelang versammelte er zig Tausende Soldaten an der ukrainischen Grenze. Satellitenbilder zeigten die Truppenbewegungen – niemand reagierte. Man ließ Russland gewähren und Putin deutete diese Zurückhaltung als Schwäche. Nutzte sie aus. Marschierte ein. Tötete.

Doch auch wenn einige wenige ahnten, was kommen wird: Der Realitätschock kam trotzdem. "Aufgewacht. Krieg." schrieb ich um 5.30 Uhr am Morgen in meine Instagram-Story.

"Wenn man gesehen hat, mit welchen Zuständen die Menschen zu kämpfen haben, versteht man die Debatten in Deutschland nicht mehr."

Es folgten Tage, in denen wir versuchten, den Krieg zu beschreiben, aufzuklären, Lösungen zu finden. Waffensysteme zu erklären und zu hinterfragen, Kriegsstrategien herauszufinden, Betroffene zu sprechen.

Auch die Politik reagierte. Erst mit Verurteilung, dann mit Taten – außenpolitisch wie innenpolitisch. Sanktionen gegen Russland, die von Kanzler Olaf Scholz (SPD) ausgerufene Zeitenwende – dann auch Waffenlieferungen. Noch heute diskutieren wir, ob und wenn ja, was und wie viel wir liefern.

Zur Zeit der Zeitenwende tobte der Krieg schon barbarisch. Gekämpft wurde im Norden, im Osten und im Süden. Mariupol, Asowstal, Bucha, Irpin, Cherson. Städte wurden eingenommen, Menschen misshandelt, missbraucht, verstümmelt, exekutiert.

Ich entschloss, vor Ort zu sein.

Den Krieg in live und Farbe zu sehen, hat für mich vieles verändert. Zu sehen, was die Menschen bereit sind, zu geben. Aufzugeben. Es schuf Verständnis und Unverständnis. Depressive Verstimmungen und Hochgefühle. Zuletzt aber vor allem Frustration.

Die Aufmerksamkeit für diesen Krieg war in den ersten Monaten groß. Anfangs aus Schock. Dann aus Mitgefühl. Dann aus Angst.

Und dann aus Eigennutz.

Die Energiekrise. Sie hat zahlreiche Menschen nur noch bis zu den eigenen vier Wänden weit blicken lassen. Darüber hinaus gab es kaum noch etwas. Und das nutzten Populist:innen aus: Wir sollen frieren – wegen DENEN? Oder noch demagogischer: Wir sollen frieren, weil die Nato Russland in einem Stellvertreterkrieg bekämpft?

Wenn man aber selbst gesehen hat, mit welchen Zuständen die Menschen in Bachmut, Lyssytschansk, Charkiw oder selbst im relativ sicheren Kiew zu kämpfen haben, versteht man politische Debatten in Deutschland nicht mehr. Letztlich musste in Deutschland niemand frieren.

Heute ist die Aufmerksamkeit nur noch vollends gegeben, wenn Putin, Lawrow oder der Wagner-Boss Prigoschin eine wirre Rede halten oder auf einen Schlag hunderte Zivilist:innen sterben.

Skurrilität und Blut. Klick-Bringer.

Aber wie geht es den Menschen vor Ort? Welche Schicksale gibt es? Leise Schicksale, die nicht voller Tod und Explosionen stecken? Schmerz, der sich blut- und lautlos äußert?

Eine Frau flieht ein zweites Mal mit ihrer einjährigen Tochter aus dem Donbass. Zu zweit starren sie aus dem Fenster des Zugs, als sie ihre Heimat verlassen. Woran wird sich das Kind erinnern?

Organisationen schließen sich zusammen und helfen sich gegenseitig. Essen, Wasser, Hygiene, Medizin, ärztliche Versorgung. Freiwillige fahren bis an die Frontlinie, um Menschen zu versorgen oder zu evakuieren. Freiwillige sterben. Für das Gute.

Ein 13-jähriger Junge und seine Mutter fliehen zu Fuß aus dem heftigst umkämpften Osten Bachmuts. Der Vater ist bei der Flucht verschollen. Der Junge wird aus Bachmut evakuiert, die Mutter bleibt, um ihren Mann zu suchen – und findet ihn nicht. Vermutlich wird sie ihn nie mehr finden. Auch sie flieht.

Eine Frau lebt mit ihrer Familie in Bachmut. Fliehen kommt für sie nicht infrage. Das Vertrauen in das Gute ist verschwunden. 2022 versucht sie es und schickt ihren Teenager-Sohn vor, damit er eine sichere Zukunft hat. Am 8. April steht er am Bahnhof der ostukrainischen Stadt Kramatorsk, wartet auf den Zug. Dann explodiert eine Clusterbombe über ihm am Himmel. Die Mutter muss seine Leiche identifizieren.

Man liest hier und da von diesen Geschichten. Und doch bleiben sie eine Ausnahme. Was zählt, ist, was uns triggert. Was einen Instinkt weckt. Keywords. Verkürzungen. Verdrehungen. Schwarz, Weiß. Kein Raum für Grau.

Es ist normal und eine biologische Gegebenheit, dass unsere Aufnahmekapazität nicht endlos ist, denn das menschliche Gehirn hat nur begrenzt Platz. Vieles filtern wir unbewusst, einiges bewusst. Was uns wehtut, wollen wir nicht ertragen müssen. Es blieb ja nicht bloß beim Krieg in der Ukraine. Es kamen weitere Ereignisse hinzu, andere Themen wurden zuvor von der Ukraine verdrängt – Stichwort Afghanistan.

ARCHIV - 27.02.2022, Berlin: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) h�lt zu Beginn der Sondersitzung des Bundestags zum Krieg in der Ukraine eine Regierungserkl�rung. Am 24. Februar 2023 j�hrt sich der Begin ...
27.02.2022: Olaf Scholz hält seine Rede zur Zeitenwende.Bild: dpa / Kay Nietfeld

2022 wurde zum Krisenjahr: Noch immer gab es Restriktionen und Auswirkungen der Pandemie. Russland überfiel die Ukraine. Klimakrise, Lützerath, Polizeigewalt. Schießereien in den USA. Das Erstarken der Rechten. China rasselt vor Taiwan mit den Säbeln. In Mali geht es rund. Burkina Faso hatte zwei Militärputsche innerhalb von acht Monaten. Iran-Revolution. Menschen ertrinken im Mittelmeer und erfrieren im Wald zwischen Belarus und Polen. Reichsbürger:innen wollen die deutsche Regierung stürzen.

Auch das neue Jahr bleibt erbarmungslos.

Bei den vielen Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien starben fast 50.000 Menschen!

Der Kampf um Aufmerksamkeit ist schier endlos – doch als Reaktion darauf die Scheuklappen dauerhaft auszufahren, ist keine Option. Auch wenn solche Worte pathetisch und ausgelutscht klingen: Wir müssen aktiv daran arbeiten, Unrecht und Leid nicht aus unseren Gedanken zu verdrängen.

Ich habe nach meinem letzten Besuch in der Ukraine im Januar das Front-Geschehen zwei Wochen lang absichtlich nicht beobachtet. Eigentlich besuche ich, um auf dem Laufenden zu bleiben, mindestens einmal am Tag die Open-Source-Seite deepsatemap.live. Nach zwei Wochen war ich geschockt. Orte, die ich gerade noch besucht hatte, sind nun rote Zone. Russisch besetztes Gebiet. Was dort passiert, können wir uns nach den Ereignissen in Bucha, Irpin oder Cherson vorstellen.

Ein Screenshot von Deepstatemap über die aktuelle Frontsituation um Bachmut. Die Autorin war im Januar noch vor Ort in Paraskoviivka, jetzt ist der Ort eingenommen.
Ein Screenshot von Deepstatemap über die aktuelle Frontsituation um Bachmut. Die Autorin war im Januar noch vor Ort in Paraskoviivka, jetzt ist der Ort eingenommen. Bild: Deepsatemap / edited by watson

Der kleine Vorort von Bachmut, Paraskoviivka. Dort war ich zweieinhalb Wochen zuvor noch. Ein Checkpoint, an dem wir noch mit ukrainischen Soldaten über die aktuelle Situation philosophiert hatten. Eine Straße, in der wir mit Mörsern beschossen wurden – alles rot.

Wir dürfen es nicht zur Gewohnheit werden lassen, wegzuschauen. So wird es Demagog:innen, Rechten und Diktatoren nur leichter gemacht, die freie Gesellschaft weiter zu spalten. Seit einem Jahr dauert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nun an. Und es ist unsere Aufgabe, nicht kriegsmüde zu werden.

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