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Ukraine: Wie eine junge Mutter mit ihrem Kind aus dem Donbass flieht

Julia und Maria aus Druzhkivka in der Ostukraine.
Maria und Julia im Evakuierungszug auf dem Weg nach Dnipro.Bild: watson / Joana rettig
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Flucht aus dem Donbass: Die vermutlich erste Erinnerung

Unsere Autorin hat eine junge Mutter auf ihrem Weg aus dem Donbass heraus begleitet. Einmal am Tag fährt ein Zug die Menschen aus der Ostukraine in den Westen. In der Stille trauern die Geflüchteten ihrem Leben nach.
17.11.2022, 19:3023.02.2023, 14:46
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Als das Auto in den Innenhof einbiegt, stehen Julia und Maria schon vor ihrer Haustür. Die Sonne scheint, das Thermometer zeigt sechs Grad Celsius an. Dick eingepackt und nur mit einem einzigen Koffer in der Hand wartet die Mutter mit ihrem Kleinkind darauf, aus der Ostukraine zu fliehen.

Die Ruhe ist ungewöhnlich.

Menschen, die aus dem Krieg fliehen, tun dies in der Ostukraine meist unter tosendem Lärm. Artillerieeinschläge gehören zum täglichen Risiko. Vor allem in heftig umkämpften Städten wie Bachmut oder New York, das südwestlich von der 74.000-Einwohnerstadt liegt. Doch auch in den Städten und Dörfern, die drumherum liegen.

Heute ist es anders.

Julia und Maria aus Druzhkivka in der Ostukraine.
Nur einen Koffer haben Julia und Maria bei ihrer Flucht ins neue Leben dabei. Mehr nicht.Bild: watson / Joana rettig

Nichts zu hören. Nur die Autos, die in die kleine Seitenstraße einbiegen, in der Julia und Maria abgeholt werden. Druzhkivka heißt der Ort, in dem die junge Frau mit ihrem Kleinkind wohnt. Der Vater lebt nicht mehr bei ihnen. Die Trennung erwähnt Julia nur ganz kurz. Dann versteinert sich ihr Blick. Warum er nicht mitgeht, warum die Mutter das Mädchen im Krieg allein großzieht – keine Antwort. "Maria hat seine Augen", sagt sie. Gespräch beendet.

Stille.

Der Innenhof, in dem die Familie wartet, bildet ein typisch postsowjetisches Leben ab: Fensterscheiben sind zum Teil gesprungen und geklebt. Abgetragene Plattenbauten ragen in einem Quadrat um ein Stückchen Grün. In der Mitte stehen verrostete Schaukeln, metallene Wäscheständer. Bunt bemalte Autoreifen werden als Blumenkästen genutzt. Vor jeder Wohnungstür bietet eine kleine Holzbank eine Sitzgelegenheit.

Doch Menschen sind hier kaum zu sehen.

Nur eine dreiköpfige Gruppe, die um Julia und Maria steht. Der Abschied geht schnell. Schmerzlos. Julia umarmt eine blonde Frau und achtet penibel darauf, ihre Schminke nicht an die Kleidung der Freundin zu schmieren. Die Frau reibt Julia mit der Handfläche über den Rücken, als würde sie noch schnell Staub entfernen. Währenddessen trägt ein Mann mit Glatze Julias Koffer in das Auto der Hilfsorganisation, die die beiden wegbringt. Drei Minuten, nicht länger, dann sitzen Mutter und Kind im Auto.

Bachmut: Das Epizentrum russischer Angriffe

Ihre schwarze Daunenjacke behält Julia während der Fahrt an. Die knochigen Knie ragen aus den Löchern der engen Jeans. Der dunkelrote Lippenstift, die gold- und schwarz geschminkten Augenlider, die Mascara: Ihr Erscheinungsbild ist Julia wichtig. Sie hält ihre Tochter fest im Arm. Lacht mit ihrer tiefen Stimme, wenn das Mädchen Fratzen zieht.

Druzhkivka ist eine Kleinstadt mit ursprünglich 54.000 Einwohner:innen. Doch so viele leben hier gerade nicht mehr. Die Kämpfe, die Angriffe auf die kritische Infrastruktur, der kommende Winter: Es gibt genügend Gründe, um nicht mehr dort zu sein. Julia ist 27 Jahre alt, ihre Tochter Maria gerade einmal ein Jahr. Ihre Heimat liegt nahe der Frontlinie. Nahe Bachmut. Der Stadt, die seit Monaten unter Beschuss steht.

A woman walks past buildings damaged by Russian shelling in Druzhkivka, Donetsk region, Ukraine, Wednesday, Oct. 26, 2022. (AP Photo/Andriy Andriyenko)
Ein zerstörtes Gebäude in Druzhkivka. Bild: AP / Andriy Andriyenko

Nicht nur die russische Armee, auch Söldner wie jene der bekannten Wagner-Gruppe machen Druck. Bis in die westliche Stadt, beziehungsweise die Innenstadt sind sie noch nicht vorgedrungen, doch der Osten, der durch einen Fluss vom restlichen Teil getrennt ist, gilt bereits als "graue Zone". Kampfgebiet.

Die Russen versuchen Bachmut noch vor Einbruch des Winters zu erobern. Und dieser Druck zeigt sich in bestialischen Kämpfen an der Front. Aber auch in der Erscheinung der Stadt Bachmut: ein Trümmerhaufen. Jeder Tag könnte der letzte sein. Auch in Druzhkivka, Julias und Marias Heimatort, schlagen immer wieder Artilleriegeschosse und Raketen ein.

Maria wurde 2021 geboren. Zu dieser Zeit gab es bereits Kämpfe in der Ostukraine, doch Russland war noch lange nicht so weit vorgedrungen wie heute. Jetzt ist der Donbass Kriegsgebiet und auch im restlichen Land terrorisiert Russland die Einwohner:innen. Marias erste Erinnerung wird vermutlich der Krieg sein.

Bomben, Zerstörung, Flucht.

Ukrainisches Militär verlagert sich

Der Van der Hilfsorganisation bringt Julia und Maria nach Pokrovsk. Doch sie sind an diesem Tag nicht die einzigen Passagiere. Zwei ältere Männer steigen in Kramatorsk dazu. Der Alkoholgeruch der Senioren überdeckt das blumig süße Parfüm von Julia fast vollständig. Sie sitzt ruhig in der vorderen Reihe. Umarmt das Kind, dem kurz nach Beginn der Fahrt die Augen zugefallen sind. Marias kleine Finger zucken im Schlaf. Nur ganz leicht wippen sie auf und ab. Ob sie wohl träumt?

Julia und Maria aus Druzhkivka in der Ostukraine.
Während der Evakuierung fallen der kleinen Maria die Augen zu. Julia hält ihr Kind fest im Arm.Bild: watson / Joana rettig

Ihr langes, schwarzes Haar trägt die junge Mutter offen, mit einer schwarzen Sonnenbrille hält sie sich die Strähnen aus dem Gesicht. Auch Julia wirkt, als träumte sie, während sie mit glasigen Augen aus dem Fenster schaut. Bäume und Häuser ziehen vorbei. Ihre Heimat.

Wieder und wieder kommen uns Kolonnen von Soldaten entgegen. Panzerhaubitzen, Trucks in Camouflage und vollbesetzte Ladas. Das ukrainische Militär verlagert sich. Und Julia schaut zu.

In Pokrovsk steigen sie in den Zug.

Das kleine Mädchen hält ein rosafarbenes Einhorn in ihrer Hand und lacht. Von links stechen Sonnenstrahlen durch das schmutzige und vergilbte Zugfenster und blenden das Kind. Maria zeigt ihre Zähne und beginnt zu kichern. Sie streckt ihren Nacken und kneift die Augen zu. Ihre großen, blauen Kulleraugen. Das Kind flieht nun schon das zweite Mal.

Im April hatten Maria und ihre Mutter Julia Druzhkivka das erste Mal verlassen. Sie lebten sechs Monate in der westukrainischen Stadt Lwiw. Doch Julia musste zurück, wie sie erklärt. Sie musste nach der Großmutter schauen. Doch bleiben will sie nicht. Aus Sicherheitsgründen, sagt sie. Aber auch, weil der Krieg das Leben an sich so schwer macht. Nur zweimal am Tag hat Julia Zugang zu fließendem Wasser. Immer wieder gibt es Stromausfälle, die über mehrere Stunden hinweg das Leben zu einer Zerreißprobe machen.

Ziel: Kiew – ohne Verwandte, ohne Freund:innen

Julia und Maria sitzen in einem Zug, der nur wegen des Krieges fährt. Seit einigen Wochen startet einmal am Tag ein Evakuierungszug aus der ostukrainischen Stadt Pokrovsk und kommt am nächsten Morgen in Lwiw an. Mit Zwischenstopp in Dnipro und Winnyzja. Julia und Maria werden in Dnipro umsteigen. Ihr Weg führt sie nach Kiew. Auch, wenn sie dort weder Verwandte noch Freund:innen hat. Eine Hilfsorganisation hat ihr in der Hauptstadt eine Unterkunft besorgt.

Die 27-jährige Mutter Julia hält ihre einjährige Tochter im Arm, während sie von einer Hilfsorganisation aus dem Donbass evakuiert wird.
Die 27-jährige Mutter Julia hält ihre einjährige Tochter im Arm, während sie von einer Hilfsorganisation aus dem Donbass evakuiert wird.Bild: watson / joana rettig

Das Kind wird nach 2,5 Stunden Zugfahrt unruhig. Der Wagon ruckelt, es zieht. Mit Liedern einer Zeichentrickserie versucht die 27-Jährige, ihre Tochter zu beruhigen. Doch nur mit mäßigem Erfolg. Maria schreit, zappelt, wirft mit Spielzeug um sich. Julia bleibt ruhig. Streicht sich durchs Haar, wirft einen Blick in die Handykamera und überlässt den Bildschirm wieder ihrer Tochter.

Die roten Lederbezüge der Sitze in den Einzelabteilen sind abgewetzt. Jedes Abteil verfügt über zwei Stockwerke. Die Sitze im "zweiten Stock" lassen sich ausklappen. Darüber liegen dicke Wolldecken.

Hier werden die, die weiterfahren, übernachten.

Zu viel gesehen

Denn der Zug fährt die ganze Nacht durch. Bis er in Lwiw ankommt, wird es 8 Uhr morgens sein.

Worte werden hier wenig gewechselt. Die Abteile sind voll, die Augen leer. Die Menschen, die hier sitzen, starren sich an. Zu viele Erlebnisse, zu viel gesehen, um noch darüber sprechen zu können. Stille. Gedanken an die verlassene, an die zerstörte Heimat. Auch die junge Mutter schweigt.

Ankunft um 17.45 Uhr in Dnipro. Die Stadt ist düster, kaum ein Licht leuchtet. Um 16 Uhr geht hier die Sonne unter. Julias Reise geht weiter. Sie steigt aus, hebt ihre Hand für einen kurzen Gruß, glättet ihr Haar ein letztes Mal.

Und geht.

Israel kündigt nach iranischem Raketenangriff Vergeltung an – Sorge vor Eskalation wächst

Nach dem iranischen Raketenangriff auf sein Land hat Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu Vergeltung angekündigt. "Der Iran hat heute Abend einen großen Fehler gemacht – und er wird dafür bezahlen", sagte Netanjahu nach Angaben seines Büros. Wann ein Vergeltungsschlag auf den Iran erfolgen könnte, blieb zunächst offen. Bereits in der Nacht zum Mittwoch griff Israel im Kampf gegen die proiranische Hisbollah-Miliz aber erneut die libanesische Hauptstadt Beirut an. Der Iran selbst warnte Israel indes vor einem Vergeltungsschlag und drohte seinerseits eine heftige weitere Reaktion an. Angesichts der eskalierenden Lage in Nahost soll der UN-Sicherheitsrat am Mittwoch zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen.

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