Wie einfach es wäre, wenn es auf die ernsten und wichtigen Fragen des Lebens in minutenschnelle eine Antwort gäbe. Das versprechen sich Anhänger:innen der Esoterik mit verschiedenen Mitteln, etwa Tarotkarten. Klar ist: Es gibt keine Beweise für ihre übernatürliche Kraft. Allerdings kann das Kartenlesen als psychologischer Spiegel funktionieren und vermeintliche Sicherheit geben.
Diese Gründe sowie das Leiden des Krieges stecken wohl auch hinter dem Boom dieser Praktik in Russland. In einer Gesellschaft, in der in Kriegszeiten viele das Vertrauen in Politik und Medien verloren haben, boomt der Aberglaube wie nie zuvor. Und der Trend reicht bis ganz nach oben.
"Die Karte des Königs der Stäbe steht oft für unseren Präsidenten, Wladimir Wladimirowitsch (Putin)", erklärt Tarotleserin Ksenia der "Moscow Times" und deutet auf die letzte Karte ihrer Legung. Neben dem König: der Teufel. "Hier geht es um viel Manipulation – von beiden Seiten", sagt sie. Da stecke viel Teuflisches drin. "Ich sag’s, wie’s ist", ergänzt sie. Solche Aussagen werden aktuell in Russland weit weniger skeptisch beäugt als anderswo.
Seit Donald Trump erneut Präsident der USA ist und sich als möglicher Friedensvermittler ins Spiel bringt, verbreiten sich politische Tarot-Lesungen auf russischen Social-Media-Plattformen wie ein Lauffeuer. Tausende User:innen fragen sich: Wann endet der Krieg? Was passiert mit der Ukraine? Und wie steht es um Putins Geisteszustand?
Das zeigt sich auch in der Wirtschaft: Der Markt für esoterische Dienstleistungen in Russland ist laut der "Moscow Times" mittlerweile rund 2 Billionen Rubel schwer – umgerechnet etwa 25 Millionen Dollar.
Allein 2023 sollen Russ:innen fast 24 Milliarden Euro für Tarot, Astrologie und Magie ausgegeben haben – vier Milliarden mehr als für Lebensmittel. Auch wenn die Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind und sich nicht unabhängig bestätigen lassen, zeichnet sich doch ein Bild ab.
Laut einer Umfrage der "Moskowski Komsomolez", über die der MDR berichtete, haben 14 Prozent der russischen Unternehmer:innen bereits Tarot-Berater:innen für geschäftliche Entscheidungen hinzugezogen. 92 Prozent wollen das demnach wieder tun.
Eine absurde Anekdote bringt es auf den Punkt: Ein IT-Unternehmen in Moskau soll eine Bewerbung mit den Worten abgelehnt haben: "Unser Tarot-Kartenleger meint, wir passen nicht zueinander."
Auch die Machtelite bleibt von dem Trend nicht unberührt. Offiziell steht Russland für orthodoxe Werte und christliche Traditionen – inoffiziell sieht das ganz anders aus. Laut dem russischen Journalisten Michail Zygar soll Präsident Wladimir Putin nicht nur Interesse an Schamanismus haben, sondern sich bei politischen Entscheidungen von Mystiker:innen beraten lassen.
Der Besuch des Kreml-Machthabers in der Mongolei im Herbst 2024 soll laut Zygar in erster Linie dem Austausch mit Schamanen gegolten haben, darüber berichtete auch der "Spiegel". Bestätigt ist dies jedoch nicht.
Der MDR berichtete zudem von einem Gesetzesvorschlag des Duma-Abgeordneten Andrei Swinzow, der Werbung für Magie und Tarot verbieten will – wohl auch, weil die Nachfrage selbst in der Politik Überhand nimmt.
Die Flucht in das Okkulte ist nicht neu. Schon in der späten Sowjetzeit schwappte eine Welle der Esoterik durchs Land. Millionen schalteten abends den Fernseher ein, um sich vom selbsternannten Heiler Anatoli Kaschpirowski durch den Bildschirm "therapieren" zu lassen.
Historiker:innen und Psycholog:innen sehen Parallelen zur heutigen Situation: Je weniger Kontrolle Menschen über ihre Realität haben, desto größer die Sehnsucht nach "höheren Mächten". Denis Chachimow vom Moskauer Psychologischen Hilfsdienst erklärt auf der offiziellen Website der Stadt:
Die neuen Stars dieses Trends heißen nicht mehr Kaschpirowski, sondern Ksenia, Yekaterina oder Dementiy. Letzterer betreibt einen geopolitischen Tarot-Kanal mit über 17.000 Abonnent:innen. "Ich habe früher Marketing gemacht. Dann habe ich gemerkt, dass man mit Tarot schneller Reichweite aufbaut", sagt er zur "Moscow Times".
In seinen Videos legt er Karten zu möglichen Verhandlungen zwischen Putin und Trump und kommt regelmäßig zu dem Schluss: "Hier wird mehr getrickst als verhandelt." Sein erfolgreichstes Video – eine falsche Friedensvorhersage für Juli 2023 – wurde fast 500.000 Mal geklickt. Wohl auch deshalb sagt er heute: "Der Krieg kann in 30 Minuten enden. Oder in 20 Jahren."
Besonders tragisch wird es, wenn Menschen in Not Hilfe bei Kartenleger:innen suchen. Der "Moscow Times" zufolge wenden sich viele Ehefrauen vermisster Soldaten an Wahrsager:innen – weil sie von staatlichen Stellen keine Auskunft bekommen.
"Ich halte mich an jeder Hoffnung fest – denn von offizieller Seite bekomme ich keine Antworten", schreibt eine Betroffene in einem Social-Media-Post. Und obwohl laut WZIOM 83 Prozent der Bevölkerung Tarotkarten skeptisch gegenüberstehen, glaubt immerhin fast ein Drittel an esoterische Phänomene wie den "bösen Blick" – doppelt so viele wie noch vor sieben Jahren.
Damit bestätigt sich vor allem eine Erkenntnis: In Zeiten von Krieg, Unsicherheit und Kontrollverlust greifen viele Menschen zu irrationalen Mitteln, um wieder Halt zu finden – Tarotkarten gehören dazu. Aus psychologischer Sicht erfüllen sie dabei eine wichtige Funktion: Sie bieten das Gefühl von Struktur in einer chaotischen Welt.
Wer Tarotkarten legt oder deuten lässt, erlebt oft eine Form von Selbstreflexion – denn die Karten liefern keine objektiven Wahrheiten, sondern regen dazu an, eigene Gedanken, Ängste und Hoffnungen zu projizieren und zu ordnen. Dieser Effekt, bekannt als projektives Verfahren, kann ähnlich wie ein therapeutisches Gespräch wirken. Hinzu kommt der sogenannte Barnum-Effekt: Menschen neigen dazu, vage Aussagen als zutreffend auf die eigene Situation zu empfinden, was kurzfristig Sicherheit und Orientierung geben kann.
Gerade in Russland, wo viele offizielle Informationsquellen unglaubwürdig erscheinen oder Angst herrscht, offen über Zweifel zu sprechen, wird Tarot so zum emotionalen Ventil – auch wenn die Karten keine Zukunft vorhersagen können.