Triggerwarnung: Im folgenden Text werden Gewalthandlungen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.
Seit mehr als zwei Jahren schickt Kreml-Chef Wladimir Putin russische Männer in die Ukraine – meist zum Sterben. Russland ist für seine sogenannte "Fleischwolf-Taktik" bekannt. Sprich, Geländegewinne werden durch hohe Verluste erkämpft; Soldaten oftmals in den sicheren Tod geschickt.
Immer mehr Söhne, Väter und Brüder kehren von Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine nicht lebend zurück. Die Nato schätzt die russischen Verluste derzeit auf 600.000 Soldaten ein. Putin will laut Expert:innen eine Mobilisierungswelle vermeiden, um die Russ:innen bei Kriegslaune zu halten.
Stattdessen setzt er vermehrt auf Söldner aus dem Ausland oder lockt Vertragssoldaten mit Geld an die Front.
In manchen Regionen soll sich die Einmalzahlung bereits auf mehrere Millionen Rubel belaufen, schreibt das Kreml-kritische Onlinemedium "Meduza". Die monatliche Zahlung übersteige das Durchschnittsgehalt deutlich.
Doch solch ein Vertrag ähnelt einem Deal mit dem Teufel. Denn: Laut dem Bericht lässt Russland jene Männer nicht mehr so schnell "frei", befinden sie sich erst einmal im Krieg. Das gilt auch für die schwer Verwundeten, die dem Tod nur knapp entkommen sind. Erbarmen gibt es nicht, wie die Berichte von russischen Deserteuren zeigen.
Der Russe Andrey war seit August 2024 als Vertragssoldat an der Front. Am meisten habe er sich vor den ukrainischen Drohnenangriffen gefürchtet, schreibt "Meduza". Es bezieht sich dabei auf die Berichte der "Bereg-Kooperative" unabhängiger Journalist:innen, die sich mit Betroffenen ausgetauscht habe. Die Aussagen können derzeit nicht unabhängig überprüft werden.
Der Russe Andrey erinnert sich an einen verletzten Kameraden, den er nicht retten konnte.
"Er hat mich gebeten, bei ihm zu bleiben. Das Mitleid trieb mir Tränen in die Augen, aber ich konnte nichts tun. Sobald ich heraussprang, ging der gesamte Graben in Flammen auf", berichtet der Russe. Am nächsten Tage habe man die verbrannte Leiche geborgen und der Einheit übergeben. Dort lautete der Befehl, ihn als "vermisst" einzustufen.
Andreys Zweifel an der russischen Invasion wuchsen, er habe darüber nachgedacht, den Vertrag mit dem Verteidigungsministerium aufzulösen. Doch das war ihm zufolge unmöglich.
Zum Hintergrund: Nach der Ankündigung der Mobilmachung im Herbst 2022 wurden alle Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium formell unbefristet.
Laut "Meduza" sieht das Gesetz für russische Vertragssoldaten nur drei rechtliche Gründe für die Entlassung vor:
Menschenrechtsaktivist:innen kritisieren die Vorgehensweise des russischen Militärs. Die 2022 mobilisierten Russen seien in der Position von "Leibeigenen". Keiner von ihnen, kann dem Krieg den Rücken kehren, ohne im Gefängnis zu landen – selbst wenn sie verletzt sind.
Andrey kämpfe seit Monaten mit einem blinden Auge. "In der Nähe von Bachmut gerieten wir in einen Ansturm, ein Panzer schoss auf uns und ein Granatsplitter brach mir das Schlüsselbein", erinnert er sich laut "Meduza". Ein Schrappnel hatte sich dabei verirrt, "flog in mein rechtes Auge und verbrannte die Netzhaut – jetzt kann ich damit nur noch einen schwarzen Fleck sehen."
Den russischen Offizieren sei das aber egal gewesen. Eine medizinische Untersuchung habe Andrey nie erhalten. Er bat darum, als Fahrer tätig zu sein, doch sie machten aus ihm einen Granatwerfer. "Du wirst es herausfinden, du wirst lernen, mit dem linken Auge zu schießen", erzählt er. Mit einem Problem: Die Halterungen der Waffe ist für die rechte Hand gemacht, das Visier für das rechte Auge.
Wenn er und seine Kameraden keine Geländegewinne erzielten, zogen die Vorgesetzten brutal über sie her. "Sie sagten, was für verdammte Trottel wir doch sind, dass wir nicht vorankommen, warum zum Teufel tun wir das? Wir werden überhaupt nicht gebraucht und es wäre besser, wenn wir dort sterben würden“, sagt der Vertragssoldat.
Wer sich mit den Kommandeuren anlegte, erhielt harte Strafen.
Einige wurden ohne Nahrung oder Wasser im Wald mit Handschellen an einen Baum gefesselt. "Fünf Tage lang. Nur unsere Leute gaben uns Essen, diejenigen, die es verstanden. Und als die Kommission eintraf – die großen Militärbosse – versteckten sie uns", sagt Andrey.
Auch der Vertragssoldat Sergej berichtet von ähnlichen Vorfällen. Obwohl er im Krieg ein Bein verloren hat, durfte er die Armee nicht verlassen – im Gegenteil.
Im Oktober 2023 landete Sergej laut "Meduza" in Richtung Kupjansk in der Einheit Nr. 29760 der 25. motorisierten Schützenbrigade. Er wurde schwer am Bein verletzt und harrte sechs Tage im Graben mit Wasser, Zigaretten, Schmerzmittel Tramadol aus. Seine Kommandeure wollten nicht einmal seine Evakuierung koordinieren. "Scheiß drauf, ihn rauszuziehen – lass ihn verrotten", zitiert Sergej sie.
Dennoch übten seine Kollegen Druck auf das Kommando aus und Sergej landete im Krankenhaus. Zu diesem Zeitpunkt war es zu spät für sein Bein, es musste amputiert werde.
Aber der Krieg war für ihn damit nicht vorbei.
Nach dem Krankenhausaufenthalt wurde Sergej einem sogenannten Genesungsregiment zugeteilt, das speziell für verwundete Militärangehörige geschaffen wurde. Statt einer Entlassung wird der Vertragssoldat weiterhin auf dem Truppenübungsplatz in Nischni Nowgorod Mulino festgehalten, wo die Division stationiert sei, heißt es.
Sergejs Dokumente gehen oft "verloren" und in jedem neuen Bericht über die Entlassung des Soldaten wird gebeten, zu erwähnen, dass er angeblich auf Kosten des russischen Verteidigungsministeriums Prothesen ablehnt. "Sie sagen, dass sie mich dann schneller entlassen", erklärt Sergej.
Oftmals werden die Verwundeten "zurück an die Front geschickt – wie lebendes Fleisch", behauptet er weiter.
"Die Menschen werden mit dem Versprechen hierher geschickt, dass sie jetzt eine Therapie erhalten. Aber in der Regel warten sie nicht auf eine Behandlung, sondern kehren einfach zurück", zitiert der Bericht einen weiteren Vertragssoldat. Mit Hepatitis, mit HIV, ohne Armoder Bein, mit Splitter im Kopf.
Er habe einen Freund gehabt, dem drei Finger an der Hand abgerissen wurden. Eine Woche später wurde ihm der halbe rechte Arm abgerissen. "Jetzt setzen sie ihm eine Prothese ein – er wird wieder zurückgehen. Bis jeder wie ein Terminator läuft, Prothesen trägt und kämpft", heißt es.
Berichte über "behinderte" Angriffseinheiten sind nichts Neues. "Important Stories" berichtete bereits 2023 darüber. Wer sich über die Zustände beschwere oder mit dem Kommando streite, der wird laut des Berichts schneller als andere an die Front zurückgebracht. Einen Weg aus dem Vertrag gibt es kaum.
"Jetzt kann man nur noch kündigen, wenn man keine zwei Arme, zwei Beine oder einfach keinen Kopf mehr hat“, meint ein Vertragssoldat.