Wo das Massaker von Butscha stattfand, gibt es jetzt touristische Ausflüge.Bild: AP / Rodrigo Abd
Ukraine
10.09.2024, 13:3610.09.2024, 13:47
Warum an den Strand, in die Berge oder an andere erholsame Orte, wenn Urlaub in Krisen- oder Kriegsgebieten möglich ist? Eine Frage, die sich vielen nicht stellt. Fans des sogenannten "Dark Tourism" sehen das anders. Er erlebt derzeit einen regelrechten Boom in der Ukraine, die seit 2022 unter der russischen Invasion leidet.
Längst sind es nicht mehr nur Diplomat:innen oder Hilfsorganisationen, die das Land besuchen. Auch Privatpersonen, darunter Geschichts-Fans, Wissenschaftler:innen und Journalist:innen, interessieren sich für Führungen durch vom Krieg gezeichnete Orte.
Kriegs-Tourismus: Reisen an Gräuel-Orte wie Butscha
In der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw bieten mittlerweile zahlreiche Reisebüros Touren zu Kriegsschauplätzen an. Die Agentur Kyivtrip etwa organisiert eine "Dunkle Tour nach Butscha und Irpin", wie der "Tagesspiegel" berichtet. Diese beiden Städte, die während der ersten Kriegsmonate 2022 unter russischen Angriffen litten, erlangten traurige Berühmtheit durch Massaker an Zivilist:innen.
Dort, wo das Massaker von Butscha stattfand und 2022 nach Abzug der russischen Truppen Hunderte von Leichen gefunden worden waren, gibt es jetzt touristische Ausflüge. Ein Tagesausflug kostet rund 200 Euro pro Person, für Gruppen liegt der Preis bei 350 Euro.
War Tours wirbt mit Touren, um die "russische Aggression mit eigenen Augen" zu sehen.Bild: Screenshot / Wartours.in.ua
Auch das Unternehmen War Tours wirbt mit Touren, die es Reisenden ermöglichen, "Beweise der russischen Aggression" mit eigenen Augen zu sehen. Die angebotenen Routen führen durch zerstörte Wohnhäuser und zeigen die Überreste russischer Militärfahrzeuge. Eine Tour in Kiew kostet etwa 150 Euro, während ein Besuch in den schwer betroffenen Vororten Butscha und Irpin rund 250 Euro kostet.
Auch Fahrten in den Süden – etwa in die Frontregion Cherson – oder in den Norden, in die Stadt Tschernihiw, werden von einigen Agenturen organisiert. Die exklusivste und teuerste Tour vom Anbieter Visit Ukraine umfasst Aufenthalte in mehreren Städten und kostet umgerechnet 3300 Euro. Eine Versicherung ist in den Kosten nicht enthalten, wird jedoch dringend empfohlen.
"Dark Tourism" in der Ukraine: mehr Einnahmen als vor dem Krieg
Dieser wachsende Trend begann ursprünglich mit Besuchen von Politiker:innen und internationalen Organisationen, die die Verwüstungen vor Ort sehen wollten. Janina Hawrylowa, Leiterin der Gewerkschaft "Allukrainischer Verband der Fremdenführer", erklärt, dass anfangs vor allem freiwillige Helfer:innen solche Touren organisiert hätten.
Inzwischen seien professionelle Anbieter und private Guides hinzugekommen. Die meisten Touren werden dem Bericht zufolge auf Englisch durchgeführt und um das Angebot zu professionalisieren, hat die Kiewer Regionalverwaltung zusammen mit verschiedenen Organisationen Fortbildungskurse für Fremdenführer:innen ins Leben gerufen.
Laut der staatlichen ukrainischen Agentur für Tourismusentwicklung verzeichnet die Ukraine trotz des Krieges einen Anstieg an Reisenden. Marjana Oleskiw, die Leiterin der Agentur, berichtet, dass im ersten Halbjahr 2024 Tourismusunternehmen rund 250 Millionen Euro an Steuern gezahlt hätten – mehr als vor Kriegsbeginn 2021. Diese Zahlen verdeutlichen den wachsenden Einfluss des Tourismus auf die ukrainische Wirtschaft, selbst in Krisenzeiten.
Kritik am "Dark Tourism": Ukraine nicht als Opfer wahrnehmen
Trotz der wirtschaftlichen Vorteile stößt der "Dark Tourism" auch auf Kritik. Die Doktorandin für öffentliche Verwaltung befürchtet dem "Tagesspiegel" zufolge, dass dieses Konzept dem Ansehen der Ukraine langfristig schaden könnte. "Ich möchte, dass die Welt die Ukraine durch das Prisma nationaler Werte sowie ihres historischen und kulturellen Erbes sieht", sagt sie.
Ihr Land solle nicht als Opfer, sondern als starke Nation wahrgenommen werden, die sich gegen die Invasion verteidigt. Tymoschenko ist außerdem besorgt, dass der Fokus auf Kriegsschauplätzen ein falsches Bild der Ukraine in den Augen internationaler Besucher:innen hinterlassen könnte.
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Gleichzeitig sehen einige Reiseveranstalter auch einen aufklärerischen Wert in den Touren. So erklärt die Agentur Kyivtrip, dass ihre Führungen darauf abzielen, Teilnehmende zu informieren. Etwa über Möglichkeiten, wie solche Tragödien in Zukunft verhindert werden könnten.
"Dark Tourism": Die menschliche Perspektive des Krieges
Fremdenführerin Olena Oros, die seit Jahren Touren in der Ukraine anbietet, hat sich seit dem russischen Einmarsch auf Führungen zu Orten des Gedenkens und zerstörten Städten spezialisiert. "In einem Land im Krieg ist klassischer Tourismus unmöglich", sagt Oros der Zeitung. Sie betrachtet die Touren eher als Forschungsreisen.
Viele ihrer Gäste seien Journalist:innen oder Wissenschaftler:innen, die nach detaillierten Informationen suchen. Mit ihnen besucht sie Orte wie Butscha und Irpin, wo im Frühjahr 2022 Hunderte Leichen von Zivilist:innen nach dem Abzug der russischen Truppen gefunden wurden.
Oros zeige den Reisenden oft Fotos aus der Zeit der Angriffe, um das volle Ausmaß der Zerstörungen zu verdeutlichen. Sie bringt ihre Gäste auch mit Bewohner:innen in Kontakt, die von ihren Erlebnissen berichten. Besonders beeindruckend sei für viele der Besuch in Borodjanka, einer weiteren vom Krieg gezeichneten Stadt. Hier stellten sich Zivilist:innen den Panzern der russischen Truppen entgegen.
Für Oros ist es wichtig, dass die Überlebenden des Krieges ihre Geschichten erzählen können. Sie ist überzeugt, dass nur durch den direkten Austausch das Trauma und der Schmerz der ukrainischen Bevölkerung wirklich verstanden werden können.
Ukraine: Bevölkerung sieht "Dark Tourism" gespalten
Auch unter den Einheimischen gibt es Befürworter:innen des "Dark Tourism". Die Bewohnerin Zira Gongadse aus Butscha unterstützt laut "Tagesspiegel" die Idee, ausländischen Besucher:innen die Realität des Krieges zu zeigen. Sie weist darauf hin, dass im Internet zahlreiche falsche Informationen und russische Propaganda kursieren.
"Ich gehöre zu den Menschen, die an das glauben, was sie mit ihren eigenen Augen sehen", sagt sie. Ihrer Meinung nach sollte man Reisenden die Möglichkeit geben, den Krieg vor Ort zu erleben und sich ein eigenes Bild zu machen.
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