Als sie die Bühne betritt, kommt das Publikum das erste Mal so richtig in Fahrt. Das zeigt erneut: Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist eine One-Woman-Show. Sie steht und fällt mit der ehemaligen Linken-Politikerin.
Wenige Tage vor der Europawahl am 9. Juni will sie nochmal richtig die Werbetrommeln für ihre Partei rühren. Dazu hält Wagenknecht am Donnerstagabend eine lange Rede am Neptunbrunnen in Berlin. Auch watson ist vor Ort dabei.
Etwa 3000 Menschen sollen sich auf dem Platz versammelt haben, um der BSW-Politikerin zu lauschen. Das sagen jedenfalls die Veranstalter am Ende ihres Auftritts. Doch von vorne.
Bevor sich die Frau des Abends blicken lässt, sprechen Kandidat:innen für die Europawahl. Eine Band soll zwischendurch die Leute anheizen, doch so richtig Stimmung will nicht aufkommen. Der Applaus für die Redner:innen vor dem großen Auftritt Wagenknechts schallt über den freien Platz, übertönt aber kaum das Plätschern nahe des Neptunbrunnen.
Vereinzelt sieht man Plakate und Banner. Auf einem steht etwa "Raus aus der Nato", dazwischen einige Friedenstauben und eine Regenbogenflagge. Hier kommt eine bunte Gruppe aus überwiegend älteren Menschen zusammen. Sie freuen sich über die Sitzgelegenheiten auf den Bänken und am Brunnen.
Auch die Polizei ist vor Ort. Die Beamten wirken angespannt, laufen immer wieder durch die Menge und flüstern etwas in ihre Mini-Mikrofone. Der Messerangriff auf den AfD-Politiker in Mannheim zeigt: Wahlkampf in Deutschland ist nicht ungefährlich.
Doch die Stimmung bleibt entspannt und friedlich – genau im Sinne der zahlreichen Friedenstauben, die auf Fahnen über den Köpfen schweben. "No War" steht auf einem Plakat. Der Krieg in der Ukraine ist ein großes Thema in allen Reden der BSW-Politiker:innen an diesem Abend.
Mehrmals hört man den Vorwurf: Wie kann es sein, dass die Ampel-Regierung Millionen an die Ukraine verschenkt, während sich in Deutschland die Züge verspäten und die Brücken marode seien. Das BSW sorgt sich offenbar sehr um die Deutsche Bahn und den Brückenbau.
Allgemein solle man den deutschen Interessen mehr Aufmerksamkeit widmen, lautet der Appell von Wagenknecht.
Während man etwa den Fachkräftemangel durch Migration eindämmen will, sollte man sich ihrer Meinung nach zunächst um jene jungen Menschen kümmern, die im Land leben. Dass es aber viel zu wenige für das Weiterbestehen des deutschen Sozialstaates sind, erwähnt sie nicht.
Dann teilt sie gegen die Ampel-Politiker:innen aus.
Ganz vorne dabei ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), "der immer wieder umfällt", wie sie sagt und nicht zu seinen Entscheidungen etwa zum Ukraine-Krieg stehe. Allgemein sei nur noch wenig sozial an der SPD, die sich laut ihr nicht mehr für die Bedürfnisse der Bürger:innen einsetzt.
Fakt ist: Die SPD verliert an Zustimmung und steht laut des Meinungsforschungsinstituts Forsa gleichauf mit der AfD. Auch die Grünen und FDP büßen Stimmen ein, die andere Parteien für sich gewinnen wollen.
Laut aktuellen Umfragen kommt das BSW sowohl bei der Europawahl als auch bei der Bundestagswahl auf sechs bis sieben Prozent. Sie hängt damit die FDP ab, die teilweise nicht die 5-Prozent-Hürde schafft und somit um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen müsste.
Auch gegen FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner teilt Wagenknecht aus. Er vertrete vor allem die Interessen der Wohlhabenden. Laut der BSW-Politikerin verspricht er, die Steuern nicht zu erhöhen, aber eben nur für die Reichen. Kürzlich verkündete Lindner, er wolle bei der Steuer entlasten. Geplant sei eine Anpassung der Lohn- und Einkommensteuer in drei Schritten bis 2026.
Wagenknecht grast auch die Grünen ab: So lebe Wirtschaftsminister Robert Habeck in seiner Bubble aus Bioläden, Hafermilch und Elektroautos und habe keine Ahnung, von den "echten Sorgen der normalen Bürger". Dabei ist es gerade Habeck, der immer wieder in den Fokus rückt, dass er den direkten Austausch mit den Menschen sucht.
Doch dann fällt der Name, bei dem ein Pfeifkonzert das Plätschern nahe des Brunnens übertrumpft: Annalena Baerbock.
"Waffen retten leben" zitiert Wagenknecht die grüne Außenministerin. Eine Aussage, die sie erschüttere und dafür stehe, was aus den Grünen geworden sei. Laut Wagenknecht entstanden sie aus einer Friedenbewegung heraus, heute treiben sie den Krieg an. Mit Applaus stimmen die Teilnehmenden ihr zu.
Zum Krieg in der Ukraine folgen reichlich Wohlfühl-Phrasen, dass Deutschland nach Frieden streben solle. Frieden wollen wohl alle – die Ukrainer:innen am allermeisten – aber wie dieser umgesetzt werden soll, dazu sagt Wagenknecht nur eins: Friedensgespräche.
Was diese "Gespräche" mit Kreml-Chef Wladimir Putin für die Ukraine bedeuten würden, führt sie nicht aus. Laut Expert:innen ist Russland derzeit nicht ernsthaft zu Verhandlungen bereit.
"Putin wird nicht freiwillig von seinen erklärten Zielen ablassen", schreibt Frank Hoffer für die "Internationale Politik und Gesellschaft". Er ist ehemaliger Sozialreferent an der deutschen Botschaft in Moskau sowie Minsk und war viele Jahre für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) tätig.
Er fasst die Forderungen Russlands grob zusammen:
"Russische Verhandlungsbereitschaft wird sich ergeben, wenn sich in Russland der Eindruck verstärkt, dass die Zeit militärisch, wirtschaftlich sowie innen- und außenpolitisch gegen Russland arbeite und die Punkte 2 und 3 unerreichbar seien", führt er aus.
Sprich, die Ukraine muss Russland zunächst in die Ecke drängen, damit ein Frieden möglich ist, "ohne dass die Ukraine verliert und ohne dass Russland gewinnt".
Wagenknecht fürchte sich, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein europäischer Krieg werde. Immer wieder werden laut ihr rote Linien überschritten: "Als fällt Scholz aus dem 40. Stock eines Hochhauses und meint im freien Fall beim 10. Stock: 'Ist doch alles gut'", sagt sie.
Ihre Ängste teilen Expert:innen nicht unbedingt. Im Gegenteil: "Ein russisches Hineinziehen des Westens in den russisch-ukrainischen Krieg würde die Kräfteverhältnisse in Osteuropa verändern und Erfolgsaussichten Moskaus verringern", meint Politikwissenschaftler Andreas Umland in einem früheren watson-Gespräch.
Auch Russland-Experte Stefan Meister sagt: "Putin will keinen Krieg mit der Nato." Den Namen Putin nimmt Wagenknecht an diesem Abend nur selten in den Mund.
Sie verurteile den Krieg in der Ukraine: Jeder, der einen Krieg beginnt, ist laut ihr ein Verbrecher. "Aber das gilt nicht nur für den Mann im Kreml. Das gilt auch für all die US-Präsidenten, die in den letzten 30 Jahren so viele Kriege befohlen und begonnen haben." Applaus und Jubelrufe verdrängen vollends das Wasserrauschen nahe dem Brunnen.
Mit ihrer "Aber-die-USA"-Taktik weicht Wagenknecht aus, Putin für seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in die Verantwortung zu ziehen.
Sie spricht die Sorgen der Menschen an, gibt aber keine Lösungen. Es wird mit dem rhetorischen Hammer auf die anderen eingeschlagen. Die 54-Jährige will die Menschen auf der emotionalen Ebene abholen, was ihr offenbar gelingt. Hier ein Kopfnicken, da ein "So wahr"-Kommentar, immer wieder Applaus, ab und an ein erleichterndes Ausatmen, als würde endlich jemanden das aussprechen, was einem auf dem Herzen liegt.
Am Ende ihrer Rede lässt sich Wagenknecht von ihrer Anhängerschaft feiern. Sie lächelt erschöpft, aber zufrieden.