"Stop the Genocide" – auf Plakaten, bei Protesten, in Insta-Stories ist dieser Satz zu lesen. Gemeint ist im aktuellen politischen Diskurs der Vorwurf, Israel begehe im Gazastreifen Völkermord an Palästinenser:innen.
Unbestritten ist: Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal. Seit Beginn des Gaza-Kriegs Ende 2023 sind laut UN mehr als 52.000 Menschen getötet worden. Schulen, Krankenhäuser, Flüchtlingslager wurden bombardiert, hunderttausende Palästinenser:innen sind auf der Flucht. Es herrscht flächendeckend Hunger, auch wegen blockierter Lieferungen. Selbst grundlegende Versorgung fehlt.
Am 29. Dezember 2023 reichte Südafrika beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag Klage gegen Israel ein – wegen des Verdachts auf Völkermord. Die ersten Anhörungen folgten im Januar 2024.
Am 26. Januar erkannte der IGH an, dass ein "reales und unmittelbares Risiko eines Völkermords" besteht – und forderte Israel zu Sofortmaßnahmen auf. In einer weiteren Verfügung vom 28. März deutete der Gerichtshof zudem an, dass auch das systematische Vorenthalten humanitärer Hilfe genozidale Dimensionen haben kann.
Der Vorwurf des Genozids ist heftig, es ist der schärfste Begriff im Völkerrecht. Doch was genau ist Genozid? Und warum ist er so schwierig zu belegen?
Juristisch geht der Begriff auf die UN-Völkermordkonvention von 1948 zurück. Sie wurde nach der Schoah (Holocaust) verabschiedet – als Konsequenz aus dem größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Genozid bedeutet juristisch: Eine "nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe" wird gezielt und absichtlich zerstört – ganz oder teilweise.
Die Sozialwissenschaftlerin Kristin Platt erklärt in der "Zeit": "Juristisch ist er klar und sehr eng definiert, politisch hingegen weit gefasst." Genau das macht den Begriff so sensibel.
In politischen Debatten wird er oft inflationär gebraucht, um maximalen Druck zu erzeugen. Doch wer juristisch von Genozid spricht, muss beweisen: Eine geschützte Gruppe wurde gezielt vernichtet. Und zwar mit Absicht.
Laut Artikel II der Genozidkonvention gehören dazu fünf mögliche Taten – immer verbunden mit der Absicht, eine Gruppe zu zerstören:
Im Fall Gaza sind laut dem Verfassungsblog derzeit vor allem die ersten drei Punkte relevant. Doch: Auch wenn sie zutreffen, erfüllen sie nur den objektiven Tatbestand. Die Absicht des Völkermords ist entscheidend.
Das völkerrechtliche Standardkriterium lautet: "Die genozidale Absicht muss die einzige vernünftige Schlussfolgerung aus den vorhandenen Beweisen sein." (IGH, Bosnien vs. Serbien, 2007, para. 148) Es muss ein klares Muster erkennbar sein – in Worten und Taten. Diese sogenannte Zerstörungsabsicht – juristisch: dolus specialis – ist extrem schwer nachzuweisen. Sie kann sich etwa aus öffentlichen Aussagen, systematischem Vorgehen oder der Kombination aus beidem ergeben.
Das machen internationale Gerichte. Im konkreten Fall ist es der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, bei dem Südafrika im Januar 2024 Klage gegen Israel eingereicht hat. Er prüft die Verantwortung Israels als Staat.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) untersucht parallel mögliche individuelle Verantwortlichkeiten – sowohl auf Seiten der Hamas als auch israelischer Regierungsmitglieder wie Premierminister Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Gallant.
Für den Vorwurf sprechen nach Einschätzung von Kai Ambos (Professor für Straf- und Völkerrecht, Richter) und Stefanie Bock (Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und internationales Strafrecht) laut einem aktuellen Beitrag auf "Verfassungsblog" folgende Punkte:
Dagegen spricht das Argument Israels, dass es militärisch gegen die Hamas kämpfe – nicht gegen die Zivilbevölkerung. Die Blockade von Hilfslieferungen begründet das Land mit Sicherheitsbedenken, etwa wegen möglichem Missbrauch von Hilfslieferungen durch die Hamas oder deren Präsenz in UN-Einrichtungen. Auch betont Israel, es warne vor Angriffen und setze gezielt Präzisionswaffen ein.
Ein Genozid kann auch dann vorliegen, wenn legitime militärische Ziele verfolgt werden – entscheidend ist, ob zusätzlich die Zerstörung einer Gruppe angestrebt wird.
Die Jurist:innen des Verfassungsblogs schreiben in ihrer Analyse: "Konnte man noch in den ersten Monaten dieses Gazakriegs den Genozidvorwurf relativ leicht unter Verweis auf die hohe Schwelle der Zerstörungsabsicht zurückweisen, so fällt dies mit jedem Tag, den dieser Krieg in dieser Form weitergeht, schwerer." Die Kriegsführung sei äußerst brutal und unverhältnismäßig.
Das bedeutet nicht, dass kein Völkerrechtsverbrechen vorliegt. Viele Völkerrechtler:innen halten es derzeit für sehr wahrscheinlich, dass in Gaza Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Dazu zählen: unverhältnismäßige Gewalt gegen Zivilist:innen, systematische Angriffe auf Wohngebiete, vorsätzliches Aushungern der Bevölkerung, Verweigerung medizinischer und humanitärer Versorgung.
Der IStGH hat deshalb bereits Ermittlungen aufgenommen, sowohl gegen die Hamas als auch gegen israelische Entscheidungsträger:innen. Auch hier kann es Jahre dauern, bis ein Urteil fällt – aber: Der juristische Fokus liegt bereits klar auf schwerem völkerrechtlichem Unrecht.
"Es spricht viel dafür, dass die Auswirkungen der israelischen Kriegsführung auf die palästinensische Gruppe so massiv sind, dass darin Verletzungen des humanitären Völkerrechts (ius in bello) zu sehen sind", schreiben die Jurist:innen Ambos und Bock dazu im Verfassungsblog.
Weil er in der öffentlichen Debatte mehr ist als eine juristische Kategorie. Er wird als moralische Anklage genutzt – und erzeugt maximale Empörung.
Der Genozidvorwurf wird von manchen auch politisch instrumentalisiert – etwa um Israel pauschal zu delegitimieren. Dabei ist Kritik am israelischen Militärvorgehen nicht gleichzusetzen mit einer Ablehnung des Existenzrechts Israels.
Die Genozidkonvention verpflichtet alle Unterzeichnerstaaten – darunter Deutschland – zur Prävention. Das heißt: Bereits beim begründeten Verdacht auf Völkermord müssen Staaten handeln. Jurist:innen sehen deshalb auch Deutschlands Rüstungslieferungen an Israel kritisch. Sie warnen zunehmend davor, dass solche Lieferungen gegen internationales Recht verstoßen könnten – auch dann, wenn es sich "nur" um Rüstungsgüter und nicht um klassische Kriegswaffen handelt.