Mitten auf dem Kathedralenplatz von Vilnius stehen sie in Reih und Glied: Hunderte Bundeswehrsoldat:innen, ein Musikkorps, drei Hubschrauber kreisen über der Altstadt. Zwischen Fahnen, Fernsehkameras und Sicherheitszonen hält Kanzler Friedrich Merz eine Rede, die mehr sein soll als Symbol. Deutschland, sagt er, "wird Litauen nicht enttäuschen".
Diplomatie, symbolisch für einen sicherheitspolitischen Dammbruch: Zum ersten Mal verlegt Deutschland eine komplette Kampfbrigade dauerhaft ins Ausland. Die Litauen-Brigade soll ein Versprechen einlösen – an die Nato, an das Baltikum, an eine neue militärische Rolle. Doch bis die Brigade einsatzbereit ist, vergehen Jahre. Warum das so ist, was die Stationierung für Litauen bedeutet und woran es hakt.
Die sogenannte Litauen-Brigade ist ein dauerhaft stationierter Bundeswehrverband, der bis zu 5000 Soldat:innen und zivile Mitarbeitende umfassen soll. Sie trägt den offiziellen Namen Panzerbrigade 45 und gilt als Kern der sogenannten Litauen-Brigade.
Ziel ist es, das Nato-Bündnisgebiet an der Ostflanke gegenüber Russland glaubhaft zu schützen und abzuschrecken. Die Brigade besteht aus drei Bataillonen – zwei aus Deutschland, eines aus dem bereits seit 2017 in Litauen stationierten multinationalen Nato-Verband unter deutscher Führung. Hauptstandorte sind Rudninkai und Rukla.
Weil Litauen als einer der am stärksten bedrohten Nato-Staaten gilt. Das Land liegt eingekeilt zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus, dem wichtigsten Verbündeten Putins. Die sogenannte Suwalki-Lücke – ein nur rund 70 Kilometer breiter Korridor zur polnischen Grenze – ist die einzige Landverbindung zwischen dem Baltikum und dem restlichen Nato-Gebiet. Sie gilt als potenzieller Schwachpunkt in einem möglichen Krisenszenario.
Aus Sicht westlicher Militärs ist sie ein neuralgischer Punkt. Das Verteidigungsministerium bezeichnet Litauen als den "gefährdetsten Staat an der Nato-Ostflanke". Entsprechend deutlich war der Wunsch der litauischen Regierung: mehr Schutz, mehr Präsenz, mehr Verlässlichkeit. Deutschland liefert – mit der größten Stationierung seit Bestehen der Bundeswehr.
Der politische Beschluss zur Stationierung fiel 2023. Im April 2024 machte sich ein erstes Vorkommando auf den Weg, seitdem läuft der schrittweise Aufbau. Anfang April 2025 wurde die Brigade offiziell in Dienst gestellt. Beim feierlichen Appell in Vilnius waren neben Friedrich Merz auch Verteidigungsminister Boris Pistorius und litauische Spitzenpolitiker:innen anwesend.
Aktuell sind rund 400 Bundeswehrangehörige vor Ort. Bis Ende 2025 sollen es 500 sein, Mitte 2026 etwa 2000.
Die kurze Antwort: Es fehlt an Infrastruktur. Kasernen, Unterkünfte, Werkstätten, Übungsplätze, Familienwohnungen, Schulen und Kitas – all das muss Litauen bereitstellen oder neu errichten. In Rudninkai wird dafür Wald gerodet, in Rukla wird gebaut. Der vollständige Ausbau soll erst 2028 abgeschlossen sein.
Doch auch auf deutscher Seite stockt es gewaltig. Der Sicherheitsexperte und frühere Bundeswehroberst Ralf Thiele sagte im Deutschlandfunk: "Wir senden ständig Signale – aber es fehlen die Taten." Laut Thiele mangele es an Material, Transportkapazitäten, Personal und industrieller Produktionsfähigkeit. Die Bundeswehr sei ein "Hohlkörper", in dem 20.000 Planstellen unbesetzt seien. Auch zentrale Waffensysteme und Ausrüstung seien schlicht nicht verfügbar oder noch nicht bestellt.
Vor allem eines: Abschreckung. Die Brigade soll signalisieren, dass ein Angriff auf Litauen ein Angriff auf das gesamte Nato-Gebiet wäre. Friedrich Merz betonte in Vilnius: "Die Sicherheit unserer baltischen Verbündeten ist auch unsere Sicherheit." Pistorius sprach von der "größten Gefahr für den Frieden in Europa", die aktuell von Russland ausgehe.
Das Projekt gilt zugleich als Teil der sogenannten Zeitenwende – also dem sicherheitspolitischen Kurswechsel nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Mit der Brigade will Deutschland seine Rolle als Führungsmacht im Bündnis unterstreichen – auch im Hinblick auf den bevorstehenden Nato-Gipfel in Den Haag.
In Litauen ist die Stimmung überwiegend positiv. Präsident Gitanas Nausėda sprach bei der Zeremonie von einem "besonderen Tag für Europa". Viele Bürger:innen begrüßten die deutschen Soldat:innen mit Dankesworten. Auch Brigadekommandeur Christoph Huber berichtete, die Truppe spüre, "dass sie hier gebraucht wird".
In Deutschland ist die Zustimmung nicht einhellig. Linken-Politiker Jan van Aken bezeichnete die Brigade gegenüber dem ZDF als "symbolisch wichtig, aber militärisch nutzlos". Sie sei im Ernstfall "Kanonenfutter".
Auch Ralf Thiele sieht das Projekt kritisch: "Wir haben drei Jahre verschlafen", sagte er mit Blick auf den russischen Angriffskrieg. Statt Aufrüstung und struktureller Reform sei vor allem auf Außendarstellung gesetzt worden. Zwar habe Pistorius die Kommunikation verbessert, doch "ein steiler Aufstieg der Bundeswehr ist noch nicht angelegt". Die Brigade sei bisher vor allem Kosmetik: "Putin kann zwischen Signalen und Realität unterscheiden."
Thiele erinnerte im Interview daran, dass während des Kalten Kriegs Hunderttausende Soldaten entlang der Frontlinie standen – heute wolle man mit 5000 Soldat:innen eine glaubhafte Abschreckung gegenüber Russland erreichen. Das sei "sehr mutig" – im skeptischen Sinne.
Darauf gibt es keine einfache Antwort – und genau deshalb wird das Projekt als Abschreckung verstanden. Im Ernstfall wäre die Brigade auf Verstärkung durch Nato-Partner angewiesen – sie ist kein autarker Großverband mit Durchhaltefähigkeit. Ihre Nähe zur Grenze macht sie strategisch wertvoll, aber auch verwundbar.
Kritiker:innen wie van Aken sprechen von einem "Präsentierteller". Das Verteidigungsministerium dagegen betont: Die Brigade ist kein Alleingang, sondern Teil einer breiteren Nato-Verteidigungslinie – zu der auch Luftwaffe, Marine und weitere Partner beitragen.
Bis Ende 2025 soll die Zahl der vor Ort stationierten Soldat:innen weiter steigen. Im Februar 2026 wird die Multinational Battlegroup vollständig in die Brigade integriert. Bis Ende 2027 soll die volle Einsatzfähigkeit erreicht sein – sofern Infrastruktur, Personal und Ausstattung wie geplant bereitstehen.
Friedrich Merz kündigte an, dass Deutschland seine Verantwortung "heute, morgen und so lange wie nötig" wahrnehmen werde. Sicherheitsexperte Ralf Thiele äußerte sich zurückhaltender: Es brauche jetzt endlich "Aktion auf der Straße". Bisher sei die Litauen-Brigade "kein Aufbruch – sondern ein Versäumnis mit Ansage".