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Migration: Viel Kritik am GEAS-Kompromiss – doch was wäre die Lösung?

Migrants from Eritrea, Libya and Sudan sail a wooden boat before being assisted by aid workers of the Spanish NGO Open Arms, in the Mediterranean sea, about 30 miles north of Libya, Saturday, June 17, ...
Geflüchtete aus Eritrea, Libyen und dem Sudan in einem Holzboot etwa 50 Kilometer nördlich von der Küste Libyens.Bild: AP / Joan Mateu Parra
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Migration: Viel Kritik am GEAS-Kompromiss – doch was wäre die Lösung?

25.06.2023, 09:04
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Menschlichkeit oder Abschottung? Inhaftieren, zurückdrängen oder aufnehmen? Europa streitet – und das seit Jahren.

Die Migrationsfrage ist noch immer Thema in der Europäischen Union. Mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) wollte man einen Punkt machen.

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Bisherige Bemühungen, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie irreguläre Migration eingedämmt und Fluchtursachen bekämpft werden können, versandeten. Währenddessen sterben Tausende Schutzsuchende bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen.

Gleichzeitig brechen EU-Mitgliedsstaaten systematisch europäisches Recht. Pushbacks, also das gewaltsame Zurückdrängen von Menschen, ohne fairen Asylprozess, werden etwa von Griechenland, Ungarn oder Polen seit Jahren angewandt.

Auch Italien hält sich nicht an geltendes Recht. Stichwort Dublin-Abkommen. Dieses regelt die Verteilung von Geflüchteten und besagt: Dort, wo die Menschen europäischen Boden betreten (und registriert werden) erhalten sie einen Asylprozess. Italien winkt diese Menschen jedoch weiter, lässt sie in andere Staaten ziehen.

Nancy Faeser feiert "historischen Erfolg"

Anfang Juni trafen sich die EU-Innenminister:innen, um über das GEAS zu sprechen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach danach von einem historischen Erfolg. Die Innenminister:innen hatten sich auf einen Kompromiss geeinigt – doch war der wirklich erfolgreich?

20.06.2023, Berlin: Nancy Faeser (SPD), Bundesministerin für Inneres und Heimat, spricht bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2022 in der Bundespressekonferenz. Foto: Christoph Soeder/dpa ...
Innenministerin Nancy Faeser feiert den Asyl-Kompromiss.Bild: dpa / Christoph Soeder

Für Faeser definitiv, heißt es auch auf watson-Anfrage aus dem Ministerium. "Es wurde eine Verbesserung gegenüber dem aktuellen System erreicht und für die EU war es wichtig, dass die Mitgliedstaaten nach vielen Jahren der Verhandlungen bei diesem schwierigen Thema überhaupt zu einer Einigung kommen."

So sieht der GEAS-Kompromiss aus
Vorgesehen ist ein härterer Umgang mit Migrant:innen ohne Bleibeperspektive. Ankommende Menschen aus als sicher geltenden Ländern sollen nach dem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in Aufnahmeeinrichtungen kommen. Dort würde dann innerhalb von zwölf Wochen geprüft, ob der:die Antragsteller:in Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er:sie umgehend zurückgeschickt werden. Daneben sieht der Kompromiss mehr Solidarität mit den Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen vor. Sie soll künftig nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend sein. (dpa)

Die Kritik reißt indes nicht ab.

Doch Migrationsforscher Gerald Knaus findet, dass vieles der Kritik an den echten Problemen vorbeigehe. Das sagte er in einer Diskussionsrunde der Plattform "Europe Calling". "Wenn in Polen verbindliche Grenzverfahren für jeden, der derzeit an der Grenze zu Belarus gewaltsam zurückgedrängt wird, stattfänden, wäre das ein Fortschritt." Dort harren Menschen seit Mitte 2021 in den Wäldern aus und werden quasi von Land zu Land geprügelt.

Das echte Problem ist laut Knaus, dass sich Europa in einem "katastrophalen Status quo" befindet, "wo Rechtsstaatlichkeit seit Jahren zusammengebrochen ist".

Doch gibt es eine Lösung? Für die österreichische Migrationsforscherin Judith Kohlenberger schon. Im Gespräch mit watson sagt sie, dass zwei Lösungsvorschläge etwa den Schiffbruch vor der griechischen Küste vergangene Woche verhindert oder zumindest abgeschwächt hätten. Dabei starben mindestens 500 Menschen.

Das erste sei die Frage nach der Seenotrettung. Diese dürfe man nicht nur Aktivist:innen und/oder Frontex überlassen. Die Europäische Union müsse Verantwortung übernehmen – als gemeinschaftliche Herausforderung, die auch gemeinschaftlich finanziert sei.

Der zweite Lösungsansatz ist Kohlenberger noch wichtiger: reguläre Zugangswege. Dabei geht es zum einen um legale Fluchtwege, die massiv aufgestockt werden müssten. Doch ein großer Faktor sei auch die Arbeitsmigration.

Sie sagt:

"Viele Menschen sind im europäischen Asylsystem, obwohl sie da gar nicht hingehören. Wir sehen eine zunehmende Arbeitsmigration aus dem globalen Süden im niedrig- und mittelqualifizierten Bereich. Genau dort ist in Europa der Arbeitskräftebedarf massiv gestiegen. Wir haben aber nur unzureichend legale Instrumente, damit diese Menschen einwandern können."

Zwar gebe es ein Kriterien-System für qualifizierte Zuwanderung und damit die Möglichkeit, ein Visum zu erhalten. Doch das sei oft sehr langwierig, teuer und anstrengend. "Manche Menschen erfüllen die Kriterien zudem nicht." Wenn sie etwa im niedrig qualifizierten Sektor tätig sein wollen – dann seien Kriterien wie gute Deutschkenntnisse nicht nötig.

Man müsse das gesamte System entwirren, meint Kohlenberger. "Denn wir haben aktuell das, was alle vorgeben nicht zu wollen: eine Vermischung von Fluchtmigration und Arbeitsmigration." Würde man die Arbeitsmigration erleichtern, könne man massiv Druck aus dem Asylsystem herausnehmen.

Migration: Debatte geht in die falsche Richtung

Auch erhobene Daten zeigten, dass Menschen kämen, selbst ohne reguläre Arbeitsmigrationswege – und dass sie sogar Arbeit fänden. "Nur passiert dies häufig ohne den legalen Aufenthaltstitel, dementsprechend sind die Menschen auch nicht angemeldet."

Schwarzarbeit – ein Einfallstor für Ausbeutung und moderne Sklaverei.

Bleibt das Problem der Mehrheiten in der EU. Die Rechtsstaatlichkeit verabschiedet sich nach und nach, Rechtspopulismus wächst. Einigungen, die legale und menschenrechtskonforme Migration ermöglichen, erscheinen unmöglich.

Kohlenberger sagt, der Rechtsruck in der EU sei auf einen Trugschluss zurückzuführen:

"Man glaubt, den Rechten das Wasser abgraben zu können, indem man ihre Positionen und Diskurse übernimmt. Das hat man in den vergangenen Jahren massiv getan. Und man sieht ja, dass es nicht geholfen hat."

Irreguläre Migration sei so nicht eingedämmt worden. Zudem sei klar geworden, dass Rechtspopulismus mit dieser Form der Politik nicht abgeschwächt würde. "Im Gegenteil: In vielen Ländern übernehmen auch konservative Parteien in der Mitte zunehmend diese Positionen und normalisieren sie dadurch erst recht."

Rechtspopulist:innen seien zudem an einer Lösung gar nicht interessiert. "Vielmehr brauchen sie das Problem", sagt die Migrationsforscherin. "Damit können sie Stimmung machen – und Wahlen gewinnen."

Polen hat indes angekündigt, sich weder an der solidarischen Verteilung noch an der Kostenübernahme beteiligen zu wollen. Für Kohlenberger zeigt das: "Es gibt keine Einigkeit, selbst wenn man den Kompromiss als solche verkaufen will." Auch, dass innerhalb der Beschlüsse Hintertüren offengelassen wurden, bestätige diese Annahme.

Dahinter steckten strukturelle Fragen:

  1. Muss die Migrationsfrage einstimmig beschlossen werden?
    Für Kohlenberger eine schwierig zu beantwortende Frage.
  2. Ist Migration allein ein Thema der Innenminister:innen oder berührt es nicht auch Sozial-, Wirtschafts- und Justizminister:innen?
    Wenn es um die Arbeitsmigration gehe, sei das Thema weit entfernt von der Zuständigkeit der Innenminister:innen.
  3. Werden wir weiter zuschauen, wie EU-Recht gebrochen wird?
    Dagegen müssten sich auch Staaten wie Deutschland einsetzen, meint die Forscherin. "Es ist ein System der zunehmenden Rechtslosigkeit, weil laufend EU- und Völkerrecht gebrochen wird. Bisher bleibt das sanktionslos."

Ein gemeinsames EU-Asylverfahren hält sie für sinnvoll. Das sollte vor allem auf dem Boden der Länder an den EU-Außengrenzen ablaufen. "Das müsste von der EU finanziert und überprüft werden", erklärt sie. Ein Verfahren, das gleiche Anerkennungs- und Ablehnungsraten für alle Mitgliedsstaaten hat. So entstünde keine Lotterie der Anerkennungschancen, die viele Geflüchtete dazu bewegt, immer gefährlichere Routen zu nehmen, um in ein Land zu kommen, das ihnen gute Chancen bietet. Danach müsse eine Verteilung der Asylberechtigten erfolgen.

Doch Kohlenberger sagt auch: "Darauf wird man sich derzeit nicht einigen."

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