Mychajlo Podoljak, einer der engsten Berater des ukrainischen Präsidenten, brachte es in einem ZDF-Interview auf den Punkt: Wenn ein Land auf das Gebiet eines anderen Landes komme und dort Zivilisten töte, müsse das Konsequenzen für die Täter haben. "Jeder Kriminelle, ob Soldat oder nicht, muss auf die Anklagebank gesetzt werden können."
Das Gleiche gilt für die Verschleppung ukrainischer Kinder durch Besatzer und Kollaborateure. Beim Aufdecken solcher Fälle spielen ukrainische Hacker eine zentrale Rolle.
So ist es gemäß neueren Berichten einer Gruppe Freiwilliger gelungen, umfassende Beweise für systematische Kindesentführungen aus der Ukraine und die Täter dahinter zu finden. Die Gruppe nennt sich KibOrg. Es sind ukrainische Journalistinnen und Journalisten und IT-Fachleute.
Zu ihren Zielen erklären die ehrenamtlich arbeitenden Aktivistinnen und Aktivisten:
Zum KibOrg-Team gehörten Hacker, "die Informationen von den Computern der Besatzer extrahieren". Darüber hinaus verwende man verschiedene Online-Ermittlungstechniken, um Daten zu überprüfen und Analysen zu erstellen.
KibOrg konnte die im Auftrag des russischen Staates betriebene Datenbank "Kinder des Donbass" auswerten.
Man habe mehr als ein halbes Terabyte an Daten über zehntausende verschleppte Kinder sichern und an ukrainische Strafverfolgungsbehörden übergeben können.
Dieses Beweismaterial wird laut Bericht auch in das Strafverfahren des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag einbezogen: Bereits Anfang 2023 wurden Haftbefehle gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und die "Beauftragte für Kinderrechte", Maria Lvova-Belova, erlassen.
KiBorg konnte über die Auswertung öffentlich verfügbarer Informationen im Internet – das nennt man Open Source Intelligence, oder kurz OSINT – dutzende Organisatoren und Personen ermitteln, die für die Verschleppung von Kindern nach Russland verantwortlich seien. Darunter habe es etliche ukrainische Kollaborateure, die seit 2014 in den besetzten Gebieten mit russischen Behörden kooperierten.
Dazu kommentiert ein X-User:
Es gibt mehrere Gründe.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fand jedenfalls deutliche Worte:
Im April dieses Jahres entschied der Europarat, dass die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland Anzeichen eines Völkermordes aufweist. Das Kreml-Regime streitet die durch Schilderungen von Betroffenen dokumentierte Vorgehensweise aber nach wie vor ab und behauptet, die Kinder lediglich aus Kriegsgebieten evakuiert zu haben.
Auch schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges seien Kinder aus Heimen und Pflegeeinrichtungen entführt worden, hat hingegen die Parlamentarischen Versammlung des Europarates offiziell festgehalten.
Mit der Invasion im Februar 2022 nahmen die Kindesentführungen massiv zu. Auf direkte Anweisung des russischen Despoten Putin gingen die Besatzer systematisch vor, um möglichst viele Minderjährigen zu entwurzeln.
In einigen Fällen wurden auch gezielt Kinder zu Waisen gemacht, entweder durch Ermordung oder Inhaftierung der Eltern, um die Kleinen mitnehmen zu können.
Für verschleppte ukrainische Kinder, die sich gegen die Adoption und Umerziehung zu Russen wehrten, organisierte Lvova-Belova mit dem Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow militärische Jugendlager in Tschetschenien, die einen "militärisch-patriotischen Wandel" herbeiführen sollten.
Anzumerken bleibt, dass die Zwangsumsiedlung von Kindern ein Kriegsverbrechen ist. Und Kriegsverbrechen verjähren nicht.
Dank der von Hackern erbeuteten Datenbank können die Verantwortlichen in den russischen besetzten Gebieten der Ukraine – hier Mariupol – identifiziert und verfolgt werden.
Im März 2023 gab Maria Lvova-Belova, Beauftragte für Kinderrechte unter dem Präsidenten der Russischen Föderation, bekannt, dass die besetzte Region Donezk die erste der annektierten Regionen sein werde, die an die staatliche russische Kinder-Datenbank angeschlossen werde.
Die Hauptfunktion dieses Systems sei die Speicherung und Verarbeitung von Daten aller ohne elterliche Fürsorge zurückgebliebenen Kinder und Waisen sowie die Registrierung russischer Familien, die Kinder adoptieren möchten.
Zugriff auf die russische Datenbank haben gemäß Bericht nur einzelne Fachkräfte, die direkt vom "Staatlichen Dienst für Familie und Kinder" (DSSSD) benannt werden.
Um Informationen abzurufen, sei eine spezielle Software erforderlich, die zusätzlich einen individuellen Benutzernamen sowie ein individuelles Passwort erfordere.
Dies habe die Hacker nicht abhalten können. So habe das KibOrg-Team die vollständige Datenbank erhalten, "dank patriotischer Bürger, die ihr Leben riskierten, um die Verbrechen der Russen zu dokumentieren", wie es heißt.
Wegen der Sensibilität der Informationen werden keine Angaben zu den betroffenen Minderjährigen und ihren Angehörigen öffentlich zugänglich gemacht. Als Beweis haben die Menschenrechts-Aktivisten jedoch Screenshots aus der Datenbank "Kinder des Donbass" zur Verfügung gestellt.
Die Dokumentation aus dem von den Russen besetzten Mariupol, einer ukrainischen Stadt mit fünf Verwaltungsbezirken, werde "viel über systematische Verbrechen gegen die Rechte ukrainischer Kinder erzählen", so KibOrg.
Auf der Website des Recherche-Kollektivs ist eine sehr lange Liste mit mutmaßlichen Täterinnen und Tätern aufgeführt. Viele Personen werden mitsamt Foto gezeigt. Und alle Daten können für weiterführende Untersuchungen über die Website der Vereinigung heruntergeladen werden.